Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

DOI Heft:
Heft 11 (November 1932)
DOI Artikel:
Frantzen, Wilhelm: Ein Beitrag zur Frage der lateinischen und deutschen Zierschrift
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0203

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
WILHELM FRA NTZEN-HANNOVER:
g|N BEITRAG ZUR FRAGE DER LATEINISCHEN UND DEUTSCHEN ZIERSCHRIFT

Wir leben in einer Zeit der heftigsten politischen
Kämpfe. Ihre Austragung gehört gewiß nicht
|n den Rahmen unserer Zeitschrift. Aber dennoch körn-
en wir an einer Berücksichtigung ihrer kulturellen
^Wirkungen nicht vorbei. Vor allem dann nicht, wenn
sie so sichtbar werden wie auf dem Gebiete der Kunst
und damit auch auf dem Gebiete der Kunsterziehung.
|[tl Augenblick ist die Frage der deutschen oder latei-
nischen Schrift besonders wichtig, und wir als Träger
der Zeitschrift „Kunst und Jugend" haben ja heute
fischen den beiden Formen zu wählen.
Die Bestrebungen, die deutsche Schrift vor dem
langsamen, aber immerhin sich verstärkenden Vordringen
der lateinischen zu retten, sind nicht neu, Gegen-
wärtig wurzelt ihre entscheidende Begründung nur
besonders tief und breit in dem Wunsche nach einer
Wiedererstarkung der deutschen Kultur. Der sozusagen
neutral-friedliche Begriff des Volklichen weicht immer
mehr dem kämpferischen Begriff des Völkischen. Wir
ziehen die besten Nahrungssäfte für unsere Arbeit an
der Jugend aus der deutschen Landschaft, der deut-
schen Kultur und der deutschen Geschichte. Irgend-
wie in obigem Sinne muß also auch die Entscheidung
fallen, und ebenso müssen also auch gewisse Folge-
rnden für die letzten Ziele des Zierschriftunterrichts
gezogen werden.
II.
ich bin ein Freund der Fraktur. Das hindert mich
aber nicht, an dieser Stelle vor einer Überspitzung der
Forderungen zu warnen und auch für die Pflege der
lateinischen Schrift einzutreten. Aus folgenden Gründen:
Die römischen Großbuchstaben als die
ursprünglichste Form der lateinischen
Schrift bietet die günstigste Ausstel-
lungsstellung für die praktischen Übun-
gen und theoretischen Untersuchungen
im Schriftunterricht der Grundschule,
aber auch für die Unterstufe der höhe-
len Schule. Warum?
1, Sie ist die älteste europäische Schrift, die sich
bis heute in ununterbrochener Entwicklung zu immer
neuen Formen umgewandelt hat, und die in der blei-
benden Gestalt ihrer Großbuchstaben auch noch in
unserer Zeit eine starke Verbreitung besitzt. Wir
mögen bekanntlich aus der Fülle der Schriftstile die
ersten besten Beispiele herausgreifen, niemals können
sio, einschließlich der Fraktur, ihre geradlinige Ab-
stammung von der römischen leugnen. Was ferner
ilue Beziehung zu den germanischen Runen anbelangt,
so liegt auch hier immerhin eine Verwandtschaft auf
auf der Hand. Unser Unterricht ist allerdings kein Ge-
schichtsunterricht, der die zeitliche Aufeinanderfolge
von Ereignissen und Zuständen innerhalb einer ge-
wordenen Kultur behandelt.
2. Der Kunstunterricht stellt vielmehr die Eigenart und
die Entwicklung der bildhaften Gestaltungskraft des
werdenden Menschen in den Vordergrund der unter-
lichtlichen Pflege und unterwirft ihnen die Güter einer
gewordenen Kultur. Der Kunstunterricht hat eine be-
sondere Didaktik, die, von den naturgegebenen An-
lagen und Entwicklungsabläufen der jugendlichen Ge-
slaltungskraft ausgehend, die Schreibübungen vom Ein-
fachen zum Erweiterten, vom Leichten zum Schwieri-
gen steigert. In dieser didaktischen Hinsicht bieten
nun gerade die römischen Großbuchstaben dem Schü-
ler der Grundschule und der. Unterstufe der höheren
Lehranstalten die Schriftform, die seinem Vorstellungs-
vermögen entspricht. Wir müssen bedenken, daß es
sich beim Schreiben um die gebundene Wiedergabe,

um eine Nachgestaltung von Zeichen handelt, die der
Lesbarkeit und allgemein anerkannten Gültigkeit
wegen nun einmal so begriffen und geschrieben wer-
den müssen, wie sie wirklich sind, und daß es sich
beim Schreiben keineswegs um die freie Gestaltung
eines Themas, beispielsweise einer Pflanze, handelt,
das der Sextaner auf seine schlichte, der Primaner auf
seine verfeinertere Weise, jeder aber mit dem Ziele
einer formalen Harmonie bearbeitet. Es ist ausge-
schlossen — und eine rücksichtslose kulturpolitische
Forderung in diesem Sinne würde den Schriftunter-
richt lahm legen! —, daß der Schüler der Grundschule
und der Unterstufe der höheren Lehranstalt die ge-
brochene und weitläufig verzweigte Form der Frak-
tur der Harmonie aller Teile entsprechend erfassen
und niederschreiben kann; ihm mögen einzelne Teile
gelingen, an der Harmonie einer ganzen Seite wird er
scheitern. Anders verhält es sich selbstverständlich
mit dem Schüler der Mittel- und Oberstufe, der in
meinem Unterricht an die gebrochene Schrift in ver-
schiedenen Abarten heran darf und auch erfolgreich
herangeht. Die römischen Großbuchstaben entspre-
chen dem Vorstellungsvermögen des jüngeren Schü-
lers, das heißt: sie sind so geformt, daß er sie be-
reits in vorschulpflichtigem Alter aus eigener Kraft ohne
Kenntnis der Schrift selbst erfinden kann. Das Vor-
stellungsmäßig-Einfache und Leicht-Faßliche bezieht
sich allerdings nur auf das Wesentliche der römischen
Großbuchstaben, auf das ihnen innewohnende und nur
aus wenigen Richtungsstrichen und Maßen bestehende
Skelett, also auf die der wechselnden Strichstärke
und der Serifen entkleidete Form. Zum Beweise bringe
ich die zusammengefaßte Darstellung des Entwick-
lungsganges meines Jungen, der jetzt 5'A Jahre alt
ist, und dessengesammelte graphischen und baulichen
Arbeiten sich von denen gleichaltriger Kinder bis
heute nicht nennenswert unterscheiden. Ich unterstütze
diese Darstellung mit einigen Tafeln, deren Abbildun-
gen beliebig erweitert werden könnten.
III.
Unter den Zeichnungen befindet sich eine Fülle von
Gebilden, die mehr oder weniger die Skelettform der
römischen Großbuchstaben besitzen. Dieses „mehr
oder weniger" bedeutet durchaus nicht nur eine Ein-
schränkung in dem Sinne, als ob die betreffenden Ge-
bilde noch nicht die Form gewisser Buchstaben auf-
wiesen; es bedeutet vielmehr, daß sie zumeist schon
über die zahlenmäßige Begrenztheit und die wert-
mäßige Verbundenheit der Buchstabenstriche unterein-
ander hinausgehen.
Jede lineare Gestaltung ist ein Vorgang, der sich
zunächst in eingebildeten und dann in wirklichen Be-
wegungen, die untereinander in einem rhythmischen
Verhältnis stehen, abspielt. Es entspricht dem Durch-
schnitt der Leistungen, daß der Kleine bei der Zu-
sammenstellung der Striche eine Buchstabenform er-
reicht, sie dann aber doch über diese hinaus weiter-
entwickelt. (Z. B. Tafel I, 8a enthält das ILFT und E,
10b ist ein spiralig erweitertes S.)
IV.
Aus dem 1. Lebensjahre des Jungen liegt begreif-
licherweise nichts Werkstofflich-Ausgedrücktes vor.
Aus dem 2.-4. Lebensjahr (Tafel I) bringe ich einige
Versuche im Sandkasten und mehrere Bleistiftarbeiten
(der Einfachheit und Billigkeit wegen sind sie in einer
Strichätzung wiedergegeben). Alle Ergebnisse aus die-
ser Zeit bestehen aus einer parallelen oder recht-
winkligen Zusammensetzung von Geraden, aus Kreisen
und gelegentlichen Kritzeleien von stärkster Bewegt-

187
 
Annotationen