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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 5 (Mai 1932)
DOI Artikel:
Steinthal, Erich: Psychophysische Beobachtungen an Kinderzeichnungen und an Zeichnungen Ungeschulter
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0085

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Deutsche Bläffer für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht

Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeter Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen

Verantwortlich (ür die Schriltleilung; Prof, Gustav Kolb, Stuttgart, Ameisenbergsfr, 65
Druck, Expedition und Verlag: Eugen Hardt G. m. b, H. Stuttgart, Langestrafje 18
Für Besprechungsexemplare, Niederschriften oder andere Einsendungen Irgendwelcher Art wird eine Verantwortlichkeit nur
dann übernommen, wenn sie erbeten worden sind t Schreibt sachlich klar und einfach I Meidet alle entbehrlichen Fremdwörter

12. Jahrgang Mai 1932 Heft 5

DR. MED, ERICH STEIN THAL-GÖPPINGEN:
Psychophysische Beobachtungen an Kinderzeichnungen
und an Zeichnungen Ungeschulter

Das Leben des Menschen verläuft in allen seinen
Teilen, im Biologischen wie im Seelischen in der
Form einer Auseinandersetzung mit der Welt. Aus-
einandersetzung in der vollen Zweideutigkeit des
Ausdrucks genommen, insofern damit sowohl eine
slreitende Berührung mit der Welt als auch eine Ab-
grenzung der Persönlichkeit gegen die Welt — Aus-
einandersetzung im wörtlichen Sinn, Sonderung von
der Welt — gemeint ist. Bei dieser Auseinanderset-
zung gehen wir bald in der Welt, bald wieder in uns
selb' auf, wir geben uns der Welt hin, wir lösen uns
von inr, Bewegungen d! in äußerster Konsequenz
vollzogen auf der einen oeite zur Ekstase auf der an-
deren zur Mystik führen. Der modernen Psychologie
sind diese Vorgänge als Introversion und Extraver-
sion bekannt. Für gewöhnlich verfestigen wir stärker
oder schwächer die Grenze unseres Wesens gegen
die Welt, nehmen ihr gegenüber Haltung ein. Solche
Haltung kann uns durch äußere Umstände aufge-
zwungen werden, wir können es aber auch selbst
lüt gut befinden, Haltung einzunehmen, uns dadurch
Halt zu geben und zu sichern. Auch in solcher Hal-
tung steckt noch latent Bewegung auf die Welt zu
oder von ihr wqg, ja sie ist unmittelbarer Ausdruck
unseres momentanen Verhältnisses zur Welt. Unsere
Lobensäußerungen geben untrüglich und spontan über
dieses Verhältnis Auskunft. Wir drücken es aus im Spiel
doi Hände in unseren Gesten, im Gang, in der Kör-
perhaltung, im Tonfall und Rhythmus der Sprache, nicht
zuletzt in der Atmung. Und so muß es sich auch im
Spiel der Hand beim unbefangenen Zeichnen kund-
goben. Beim Zeichnen kommt aber neben dem mo-
torischen Ausdruck noch ein zweites Moment zur Gel-
tung: unsere Auffassung des Gegenstandes, mag es
sich dabei um konkrete Gegenstände oder um rein
ornamentale Formen handeln. Wir vetmögen den Ge-
genstand isoliert, scharf begrenzt gegen die Umgebung,
vollkommen von ihr abgeschlossen zu erfassen, wir
cilassen ihn in fernerer oder intimerer Beziehung zu
seiner Umwelt können ihn aus iht gleichsam erwach-
sen lassen; er kann sein eigenes Leben führen und
dann wieder einerlei Luft mit seiner Umgebung atmen.
Die Art v/ie wir solchergestalt den Gegenstand er-
lassen, spiegelt aufs genaueste unsere Einstellung zur
Welt wieder, nicht nur im philosophischen, religiösen,
künstlerischen, sondern unmittelbar grundlegend im
uiologisch-vilalen Sinn. Aus diesen Erwägungen her-
aus wird man den Zeichnungen der Primitiven, der

Kinder und ungeschulten Dilettanten Aufmerksamkeit
zuwenden, man wird versuchen, hier die Beziehungen
des Zeichnenden zur Welt, seine momentane „Hal-
tung" zu erkennen, daraus mit aller gebotener Vor-
sicht Rückschlüsse auf sein Wesen zu ziehen. Um von
vorneherein Mißverständnisse auszuschließen, beken-
nen wir uns dazu, daß wir die zeichnerischen Äuße-
rungen der Kinder und Ungeschullen nicht als Kunst
auffassen. Wir sehen in der Kunst im eminenten Sinn
die Auseinandersetzung bestimmt gearteter Menschen
mit Welt und Leben. Für den echten Künstler ist kenn-
zeichnend, daß sich diese Auseinandersetzung in sei-
nem ganzen Wesen auf dem Gebiet des Künstleri-
schen vollzieht, daß er mit Haut und Haaren Künstler
ist, oder daß — in moderner Wendung — der Typus
des Künstlers bis tief in die biologische Organisation
hineinreicht; er ist nicht nur begabt mit einem künstle-
rischen Auge, auch seine Bewegungen, das Verhält-
nis zu seinem Körpergefühl sind exquisit künstlerisch,
d. h. sie verlangen nach dargestelltem Ausdruck. Wii
glauben nicht, uns durch solche Auffassung eines fal-
schen, einseitigen Materialismus verdächtig zu ma-
chen. Und man wird nach diesen Vorbemerkungen
unsere Ausführungen wohl so auffassen, wie sie ge-
meint sind, als ein Versuch, die Zeichnungen des
Nichtkünstlers als psychophysische Äußerungen zu be-
trachten, und daraus einige Schlüsse zu ziehen. Mehr
möchten wir nicht. Wir möchten hier auch keine zu-
sammenhängende Methodik und Systematik aufstel
len, das soll einer besonderen Arbeit Vorbehalten
bleiben.
Allgemeinere Überlegungen führten dazu, an Schlaf-
losigkeit Leidenden zu empfehlen, als letzte Tätig-
keit vor dem Einschlafen, sich mit freiem Zeichnen
zu beschäftigen. Linien und Farben sollten ganz un-
systematisch und spielerisch, auf das Papier gekritzelt
oder aufgetragen werden, ohne alle Absicht ein Bild
oder Ornament herzustellen. Die Betreffenden sollten
sich ganz einem freien Spiel hingeben, entstanden
dabei zufällig irgendwelche gegenständlichen oder
ornamentalen Gebilde, so mochte das hingehen, er
sollte aber nicht erstrebt werden.
Gezeichnet wurden einfache Kritzeleien, Ornamente,
leicht hinskizzierte gegenständliche Gebilde, ganz
selten nur Gesichter oder Figuren. Der giöllle feil der
Schlafgestörten gewann auf diese einfache Weise
wieder die Fähigkeit raschen Einschlafens, der Schlum-
mer wurde tiefer und anhaltender. Wie ist das zu er-

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