Deutsche Blätter für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht
Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeferZeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen
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12. Jahrgang_September 1932 _Heft 9
HUGO HÄNDEL, BERLIN-KARLSHORST: KUNST UND KITSCH
Kunst ist Ausdruck des Lebens. Wie das Leben, so
kommt die Kunst aus dem geheimnisvollen Ur-
grund alles Geschehens, aus dem Unendlichen, Un-
faßbaren, Ewigen, Göttlichen. Und wie das Leben be-
wegt ist und mannigfaltig, von Klima, Zeitläuften und
Milieu beeinflußt, so auch die Kunst.
Jedes Volk hat seine eigene Kunst als Ausdruck
seiner Seele und seiner geistigen Struktur. Der see-
lische und geistige Grundzug eines Volkes bleibt in
Jahrhunderten wenig verändert. Daher behält auch
die Kunst jedes Volkes einen Jahrhunderte überdau-
ernden gleichen Grundzug, Grundstil, eine Eigenart. So
isi chinesische von ägyptischer, von griechischer, von
italienischer, von slavischer, von deutscher Kunst immer
auch vom oberflächlichen Betrachter zu unterscheiden.
Neben diesem urtümlichen volkhaften, an Blut und
Rasse gebundenen Zug hat jedes Jahrhundert, jede
Generation ein eigenes Gepräge, einen eigenen Le-
bens- und Kunststil. Die äußere und die geistige Kul-
tur eines Volkes sind durch mancherlei Einflüsse Wand-
lungen unterworfen, z. B. durch religiöse, politische,
wirtschaftliche Kämpfe, durch Fortschritte in Wissen-
schaft und Technik, durch Handel mit fremden Völkern,
durch Völkermischungen und Landeroberungen. Dieser
Zeit- und Denkstil wird teils von den Künstlern mit-
geformt, teils sind Denken und Vorstellung der Künstler
von ihm beeinflußt und bis zu einem gewissen Grade
abhängig. Ich erinnere an die Eroberung Germaniens
durch die römisch-christliche Kultur und Kunst, an die
dauernde Beeinflussung und das ewige Ringen um Be-
freiung von diesem Einfluß. Man denke daran, daß im
15., 16. und 17. Jahrhundert die deutsche Kunst und
nicht nur die deutsche von der italienischen Renais-
sance so beeinflußt wurde, daß die in ihr liegende
eigene Kraft und Entwicklungsmöglichkeit für Jahr-
hunderte fast zum Erliegen kam. Ich erinnere an die
galante und elegante höfische und Gesellschafts-
kunst des französischen Rokoko und ihren Einfluß auf
die gleichzeitige europäische Kunst. Man denke an
den Klassizismus, der durch Winkelmann, Lessing,
Goethe propagiert, fast die ganze Kunst Europas um
1800 ergriff und die volkhafte deutsche Kunst eines
Caspar David Friedrich und eines Ph. O. Runge zurück-
drangte. Ich weise ferner auf die Bewegungen des
Impressionismus und der neuen Sachlichkeit hin. Die
Probleme sind zwar international, sie werden aber
volkhaft abgewandelt. Eine Ausnahme bildet vielleicht
die abstrakte Malerei als rein internationale Angele-
genheit und der Versuch, zu einer absoluten, unvöl-
kischen Kunst zu kommen.
Als Drittes und Wichtigstes ist die Kunst natürlich
an das Individuum gebunden, von der Eigenart des
künstlerischen Individuums abhängig. Man muß wohl
als Forderung aufstellen, daß jede wirkliche Kunsl,
abgesehen von ihrer Volk- und Zeitgebundenheit, vor
allem eine eigene Sehweise und Auffassung, eine
eigene Handschrift und Technik, d. h. also einen eige-
nen Stil, zeigen muß.
Der größte Künstler ist wohl der, welcher den er-
lernten Zeitstil überwindet und einen neuen Zeitstil
schafft und vorbereitet, welcher also der Menschheit
eine neue Sehweise schenkt und so das geistige Gut
um neue Ausdrucksmittel — und Möglichkeiten be-
reichert und erweitert.
So kommen wir zu der Erkenntnis, daß es mehrere
Qualitätsstufen von Kunst gibt:
Erstens die hohe, freie, absolute, d. h. unabhängige,
neue Wege gehende, problemerfüllte, schöpferische
Kunst. Sie fragt nicht nach Zweck und Lohn. Sie schafft
aus innerstem Trieb, aus schöpferischem, rein geisti-
gem Zwang, sie ist sich selbst genug. Sie versucht
neue Lösungen künstlerischer Probleme des Ausdrucks,
der Raumdarsteilung, der Farbe, der Linie, des Schwarz-
weiß, der Technik, der Komposition, der Färb- und
Formbeziehungen. Der wahre Künstler wird daher,
weil er Neues, Ungewohntes gibt und gegen alle
Tradition und Konvention arbeitet, oft mißverstanden
und geächtet.
Vielleicht ist es trotz aller gutgemeinten Bestrebun-
gen wohlwollender Reformer allzumenschlich und
ewig gültig, daß höchste neuschöpferische Kunst fast
immer von den Zeitgenossen mißverstanden und ver-
spottet wird, weil sie — abgesehen vom bösen Wil-
len — einfach noch nicht begriffen werden kann, weil
das Auffassungsvermögen der Menschen zu sehr mit
Vorurteilen und anderen Maßstäben angefüllt ist. So
ist es Rembrandt gegangen, der nur su lange ein be-
rühmter und gefragter Maler war, als er noch auf ge-
wohnte Weise malte. Als er es wagte, mit der „Nacht-
wache" eine eigene, neue Lösung des Gruppenpor-
träts zu geben und als er seinem Problem der Hell-
Dunkelmalerei energisch nachging, wandte man sich
von ihm ab und ließ ihn im Armenhaus allein mit sei-
ner Kunst.
Unverstanden von ihrer Zeit blieben, um nur noch
einige zu nennen, Caravaggio, Courbet, Marees,
v. Gogh, Cezanne.
In der Technik geht's ja den größten Erfindern häu-
fig ähnlich.
Neben diesen ganz großen, ihrer Zeit vorauseilen-
den oder ihre Zeit beeinflussenden Meistern stehen
die Künstler, welche mehr oder weniger Anregungen
der Großen übernehmen, mit eigener Handschrift ab-
wandeln, ausbauen, weitertreiben. So steht v. Dyk
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