Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

DOI Heft:
Heft 12 (Dezember 1932)
DOI Artikel:
Werfel, Franz: Realismus und Innerlichkeit oder die Innerlichkeit des Menschen und die Todesgefahr, die sie bedroht
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0219

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Deulsche Bläiler für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht

Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeterZeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen

Verantwortlich für die Schriftleilung: Prof.Gustav Kolb, Sfuflgart-Sillenbuch, Oberwiesenstr.
Druck, Expedition und Verlag: Eugen Hardt G. m. b. H., Stuttgart, Langesfraije Nr. 18
Für Besprechungsexemplare, Niederschriften oder andere Einsendungen Irgendwelcher Art wird eine Verantworllidikei! nur
dann übernommen, wenn sie erbelen worden sind * Schreibt sachlich klar und einfach I Meidet alle enlbehrlidien Fremdwörter

12. Jahrgang Dezember 1932 Heft 12

FRANZ WERFEL:


REALISMUS UND INNERLICH«EIT ODER DIE INNERLICHKEIT DES MENSCHEN
UND DIE TODESGEFAHR, DIE SIE BEDROHT

Der Dichter Franz Werfel hielt voriges Jahr im Kulturbund
in Wien eine Rede, die sich mit der uns alle bedrängen-
den Frage beschäftigt: wie retten wir gegenüber der un-
heimlich fortschreitenden Technizierung, gegenüber der
mechanistischen und materialistischen Weltanschauung, die
sich in den gewaltigen Neuwelten Amerika und Rußland
am ausgeprägtesten kund gibt und uns alle bedroht, das
Leben, d.li. die Seele, Ich entnehme dem Vortrag, der vor
kurzem im Verlag Paul Zsolnay, Berlin erschien, Nach-
stehendes, um zu dessen Studium anzuregen.
Die Maschine, die einst die Völkermassen zum I n*
dustrieproletariat verelendet hat, ver-
elendet sie nun, auf dem Wege ihrer eigenen Voll-
endung, noch zehnmal grausamer zum Arbeits-
losenproletariat. ... Was im Laufe des gan-
zen neunzehnten Jahrhunderts der Realgesinnung nicht
gelungen ist, das hat sie in dem einzigen Jahrzehnt
nach dem Weltkrieg mühelos erreicht: die Einschüch-
terung, ja Unterdrückung der menschlichen Innerlich-
keit, die Entwertung des schöpferischen Geistes. Sie
hat unserer Seele den Glauben genommen, zuvörderst
aber den Glauben an diese Seele selbst. Dafür ist es
ein entsetzlicher Beweis, daß die Jugend und die
Revolution, sonst die ewigen Verteidiger des Lebens
gegen den Tod, diesmal nicht auf seiten des Ver-
gewaltigten stehen, sondern aut seiten des Vergewal-
tigers. . . .
Es gilt das Axiom: Ohne Innerlichkeit gibt
es keine äußere Welt, ohne Phantasie
keine Realität. ... Glück ist der Reichtum der
zur Innerlichkeit umgeschmolzenen Wirklichkeit: „Das
Himmelreich ist in euchl"
Die schöpferische Innerlichkeit, der geistig-seelische
Mensch, offenbart sich in drei Sphären der Religion
und Sittlichkeit, der Wissenschaft und Spekulation, der
Kunst und Phantasie. . . . Nur der musische Mensch
vermag die durch den Sachglauben zerstörte Inner-
lichkeit wieder aufzubauen. Wohlgemerkt! Ich meine
nicht die Kunst, nicht Kunstwerke und auch nicht
Künstler, nein, ich meine den seelisch-geistig beweg-
ten, den erschütterlichen, den rauschfähigen, den
phantasievollen, den weltoffenen, den sympathie-
durchströmten, den charismatischen, den im weitesten
Sinne musikalischen Menschen. . . .
Wir aber, die wir das Leben verteidigen wollen,
wir müssen uns sammeln, wir müssen eine Masse bil-

den, eine aufrührerische Irredenta der Weltlreund-
schaft gegen die Weltverödung. Keine Utopiel Die
Revolution des Geistes und der Seele kommt mit der-
selben Gesetzmäßigkeit, mit der die materielle Revo-
lution gekommen ist, wenn auch in anderer Form. . . .
Denn gerade der technische Fortschritt und die kom-
mende Arbeitsverkürzung sind die Pole, die den Strom
der neuen Revolution erzeugen. Es gehört ja zum
tieferen Sinne der Maschine, daß sie nicht nur Güter
erzeugt, sondern auch freie Zeit. Diese freie Zeit, der
fatal herrliche Mehrwert der künftigen Massen, wird
das Dynamit sein, das dereinst die erste Bresche in
den festen Wall des Sachglaubens sprengt. . . . Eine
lebende Seele könnte nach vier Stunden Maschinen-
arbeit zehn Stunden Freiheit im russisch-amerikani-
schen Stil nicht ertragen. Und wenn wir auch hundert-
tausend Strandbäder, Fußball- und Boxkämpfe, Film-
sensationen und Autokolonnen zum Ersatz geboten
würden.
Dennochl Die soziale und ökonomische Revolution
muß und wird vorerst in der Welt siegen. Dieser Pro-
zeß, dessen Anfänge wir eben erleben, ist von einer
Periode unfaßbarer materieller und seelischer Armut
begleitet. So grausam es aber klingen mag, im ge-
schichtsdialektischen Sinn ist dieser Zustand des Elends
notwendig, aus ihm wird die Revolution des Geistes
und der Seele kommen. . . .
Wird die kommende Revolution des Geistes in
Europa ihre Träger bereit finden? . , . Das sonderbare
und tragisch-große Schicksal der deutschen Nation
hängt geheimnisvoll mit der zwangsläufigen Veran-
lagung der Einzelseele zur fensterlosen Einsamkeit und
Innerlichkeit zusammen. . . .
Der deutsche Kulturkreis dürfte in der kommenden
Geistesrevolution die führende Rolle spielen, weil er
den größten Reichtum an Innerlichkeit besitzt.
Sind wir heute schon für diese Aufgabe gerüstet?
Neinl Im Erziehungswesen z. B. steht der geistigen Er-
neuerung die allmächtige Realgesinnung starr im
Wege. Die Elementarschule zwar hat sich in den letz-
ten Jahren im Sinne einer unmittelbaren Natürlichkeit
und Freiheit gebessert. Das Grundmotiv der Erziehung
aber ist und bleibt der Wille, „nur-praktische" Men-
schen heranzuzüchten. Also seellose und glückstaube
Menschen. Die höhere Schule, das humanistische

201
 
Annotationen