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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 5 (Mai 1932)
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Stiehler, Georg: Abiturientennot, höhere Schule; Abbau des Zeichen-, Kunst- und Werkunterrichts
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Zum Abbau, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0094

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geistig und künstlerisch geleitetes l-landtum im Werk-
unterricht; feine Beobachtung in der umgebenden
Natur und Kultur, sachstarke odei gefühlsstarke Gestal-
tung und Darstellung irrt Zeichen- und Kunstunterricht.
Es ist nicht vermessen, im Goethejahr auf den gro-
ßen Augenmenschen Goethe hinzuweisen, der in seiner
Ganzheit verband Weltweisheit und Denkkraft mit
Augenkraft und zeichnerischem Tun. Diese doppelte
Polarität, seelisches und geistiges Tun bei hochent-
wickeltem körperlichen Tun, zeigt auch der höheren
Schule in diesen Hochzeiten der sozial wirtschaftlichen
und kulturellen Not das notwendige Programm: Wis-
senschaftliche, künstlerische, praktisch
technische Bereitschaft des werdenden
Menschen.
Nur so und nicht anders kann die hö-
here Schule ihre Abiturienten in freier
Wahl und bei freiem Wettbewerb dem
praktischen Leben oder der Hochschule
zu führen. Das ist nicht nur eine Notforderung für
die nächsten Jahrzehnte deutscher Not, sondern eine
Besinnung der höheren Schule auf den werdenden
Menschen, auf dessen künftiges Geschick; auf die
Menschwerdung und auf den Lebensberuf in Zeiten
der Not und Zeiten der Gesundung.
Was aber tun in dieser Situation deutsche Unter-
richtsverwaltungen? Was fordert der deutsche Städte-
tag? Was bringen die Notverordnungen? —
Einen Kulturabbau, einen grandiosen Kulturabbau'
Eine Vertiefung der seelischen Not, eine Erschwerung
der Beiufsentscheidung bei den Abiturienten! — In
Preußen und anderen Ländern streicht man die Ge-
biete des bildnerischen Schauens, Gestaltens und Dar-
stellens bis zu 33"« des Bestandes, der an sich schon
knapp bemessen war. Einem solch „verkümmerten"
Abiturienten erschwert man die Wahl für den künf-
tigen Beruf. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Re-
gierungen die „Landesstellen für die Berufswahl"
schaffen, in Merkblättern die Abiturienten vor dem
Studium warnen, die Kreise der Wirtschaft für die über-
zähligen Abiturienten interessieren wollen.
Das ist nicht nur grotesk, nein, es ist eine Sünde
wider das junge Geschlechtl —
So wird dieser unhaltbare 33%ige Abbau des Zei-
chen- und Kunstunterrichts an den höheren Schulen in
der Zeit der Abiturienten-Not zu einem tatsächlicher!
und moralischen Unrecht an der Jugend. Haben das
bei dem „grandiosen" Abbau in der ganzen Schwere
die verantwortlichen Stellen durchdacht? Durchfühlt?
Noch immer betrachten viele wissenschaftlich ge-
bildeten Lehrer, anderweite akademische Kreise die
künstlerischen und praktischen Bildungsgebiete als
minderwertig, den wissenschaftlichen Bildungsgebie-
ten gegenüber, als unter der „höheren Kultur"
stehend.

Die Wissenschaft preist den Aulslieg des Menschen-
geschlechts an der Hand seiner Erfindung und Beherr-
schung des Werkzeuges und der Formung der Ma-
terie! — Das geschieht aber nur in theoretischen Er-
wägungen; der Techniker, auch der Künstler ragt aber
heute in der Wertschätzung nicht an den Wissenschaft-
ler heran. — Wollen aber die tausende überzähligen
Abiturienten ins Leben treten, dann hört ihr „Latein"
auf und die „Sprache des Lebens" geht ihnen meist
schmerzhaft auf. Dann erkennen diese suchenden Men-
schen, daß auch jede Technik ihren Geist,
ihre Seele hat.
Die Materie, das Werkzeug, die Maschine sind nicht
der Sinn der Technik, sondern dei Kampf mit der
Materie, der Sieg durch Formung.
Das auch ist der Sinn und die tiefeie Bedeutung
alles Zeichen-, Kunst- und Werkunterrichts.
Gerade diese heute wiederum minder geachteten
Bildungsgebiete an der höheren Schule entsprechen
der „Situation des Lebens", erleichtern den Abiturien-
ten die Berufswahl. — Wir aber wiederholen: Zeit-
fremd, lebensfremd streicht man bis zu 33"« diese
wichtigen Gebiete für die Persönlichkeitsentwicklung
und für den Einbau der Jugend in das Leben. Eine
führende pädagogische Zeitschrift schreibt dazu:
„Der Lebensraum der Jugend in der Schule wird in
allen deutschen Ländern immer weiter eingeschränkt
Wie seltsam, v/ie unwahr wirken daneben die woil
reichen Reden von der Erziehung zu völkischer Krall
und Gesundheit-zur Erziehung des Nachwuch-
ses zu praktischer Arbeit. Zur selben Stunde aber sind
verantwortliche Männer mit wahrem Feuereifer dabei,
den letzten Rest jener Arbeitsmöglichkeilen in den
Schulen zu vernichten. Kritik wird unbequem empfun
den. Mitarbeit, die helfend sich bemüht, Wege in dei
Not zum gerechten Ausgleich unter Wahrung lebens-
wichtiger Aufgaben der Jugendausbildung und Er-
ziehung zu suchen, ist nicht gern gesehen." Wir brau-
chen diesen Worten für die Jugend nichts hinzuzu-
fügen, auch sie bilden einen Beitrag zum Thema Abi-
turientennot -- höhere Schule — Abbau des Zeichen-,
Kunst- und Werkunterrichts. —
Indem sich die höhere Schule „auf sich selbst be-
sonnen" hat, die Unterrichtsverwaltungen in den mei-
sten deutschen Ländern den Zeichen-, Kunst- und Werk-
unterricht „giandios" abbauten, verkümmert die Ju-
gend durch einseitige Bildung und man veibaut ihr
innerlich den Weg ins Leben, denn das Leben wird
solch einseitig vorgebildeten Abitu-
rienten Zurufen: Unbrauchbar! — Die Ju-
gend wird resignieren oder auf radikale Abhilfen drän-
gen, auf Bruch mit der zähen Tradition! —
Das junge Geschlecht wird richten über gegen-
wärtige, unverantwortliche Abbau rn aß-
nah men der Einseitigen, Traditionsbeschwerten, die
aber doch die Verantwortlichen sindl —

ZUM ABBAU
Im Kampf um unsere Sache.
Aus Bekanntmachungen im „Mitteilungsblatt" wissen
unsere Mitglieder, daß die Vorstände der beiden
Reichsverbände den Abwehrkampf gegen den Abbau
des Zeichen- und Kunstunterrichtes an den höheren
Schulen nicht mit der großen Protestkundgebung im
Berliner Rathaus als beendet ansahen, sondern seither
den Kampf energisch fortführten. Die letzten Nummern
von „Kunst und Jugend" beweisen das hinreichend.
Unsere Zeitschrift weiß, daß ihr Betätigungsfeld nicht
in die engen Schranken von Standesfragen und -inter-
essen eingeschlossen sein darf; sie hat dem Rechnung
getragen und wurde auf diese Weise das führende

Blatt der Deutschen Kunsterziehung, Aber heute
wird „Kunst und Jugend" bewußt zum
Kampfblatt für Kunst und Jugend. Es geht
In diesem Kampfe nicht um Standesfragen und Stan-
desinteressen, es geht auch nicht um eine bloße Fach-
frage, es geht um viel mehr: es geht um den Gedan-
ken der Kunsterziehung überhaupt, es geht „um die
Grundlagen der Erneuerung der Kultur in der Gegen-
wart schlechthin".
Die Berliner Protestkundgebung war eine gemein-
same Veranstaltung sämtlicher Verbände der akad.
geb. Musik- und Zeichenlehrer. Die neue Abwehrmaß-
nahme, von der nachstehend berichtet werden soll,
geht nur von beiden Reichsverbänden der Zeichen-
lehrer und Zeichenlehrerinnen aus. Aus taktischen

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