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Kunstchronik und Kunstliteratur — 61.1927/​1928

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Heft 1 (April 1927)
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https://doi.org/10.11588/diglit.67422#0005
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KUNSTCHRONIK UND KUNSTLITERATUR
BEILAGE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST
HERAUSGEBER: PROFESSOR DR. GRAUL / SCHRIFTLEITER: DR. NACHOD
Heft i April

KUNST IN PARIS

Das künstlerische Leben der Wintersaison in Paris
zeigte nur wenig Bedeutungsvolles. Das Ende
der Inflation war zugleich das Ende der starken Kauf-
lust, die wiederum das künstlerische Schaffen zur
Höchstleistung angeregt hatte. Diese Produktion war
allerdings mehr auf Massenumsatz eingestellt und
drückte das Niveau zur flachen unpersönlichen Ge-
staltung herab. Die Entwicklungslinien erstarrten,
die Künstler blieben auf dem gleichen Punkte stehen
und schrieben sich selber ab. In jeder Ausstellung,
in jedem Fenster sah man die gleichen Utrillos und
dieselben Vlamincks; selbst Matisse malte immer das
gleiche Mädchen in dem gleichen gestreiften Lehn-
stuhl und Friesz seine Hafenbilder.
Der „Salon d’Automne“ zeigte ähnliche Tendenzen.
Von den 2888 Kunstwerken, die der Katalog verzeich-
nete, überragte nur ganz Weniges das Niveau unserer
Glaspaläste und Kunstvereine. Trotz der stattlichen
Zahl von 1300 Künstlern, die als Vertreter von 30
Nationen ausgestellt hatten, war es im allgemeinen
Pariser Kunst, die hier gezeigt wurde und die den
nationalen Charakter der einzelnen Maler willkürlich
verleugnete. Zum ersten Male seit den Kriegsjahren
erging an die deutschen Künstler der Ruf, einen
Querschnitt ihrer Kunst in einem besonderen Raum
auszustellen. Die Zeit war jedoch zu knapp, um eine
ernste Auslese zu treffen, so daß die deutsche Sonder-
schau auf den Herbst 1927 vertagt wurde. Nur einige
jüngere namenlose Künstler, die in Paris studieren,
nahmen die alten freundschaftlichen Beziehungen
wieder auf.
Noch weniger bedeutungsvoll war der diesjährige
„Salon des Independants“. Nach der retrospektiven
Ausstellung von 1926, der Apotheose dieses ruhm-
reichen Salons, hätte er für immer seine Pforten
schließen sollen. Um die Jahrhundertwende war er
der einzige Salon, der das Prinzip hatte, die Jury zu
unterdrücken und der den Künstlern Gelegenheit bot,
frei ihre Werke dem Urteil des Publikums zu unter-
breiten. Seinen Ruhm hatten gewiß Maler von Rang
gegründet: Cezanne, van Gogh, Seurat, Toulouse-
Lautrec und Henri Rousseau. Aber heute zeigt er fast
4000 Bilder, ohne auch nur im geringsten „unab-
hängig“ oder gar fortschrittlich zu sein. Zudem gibt er
ein entstelltes Bild der zeitgenössischen Malerei, da die
besten und wesentlichsten Künstler abwesend sind.
Nur Matisse ist mit zwei kleinen Bildern vertreten,
geht aber unter in der Dissonanz seiner Umgebung.
Z. f. b. K. Beilage

Die Kunsthandlungen hatten nach der Hochflut
des letzten Jahres einen um so stilleren Winter. Die
Kauflust ist nur gering und die Kunsthändler haben
weder Mut noch Lust, große Ausstellungen zu
veranstalten, Nur einige ganz große Galerien zeigen
sich rührig.
Bernheim jeune veranstaltete eine Reihe wertvoller
Ausstellungen. Eine umfangreiche Sammlung von
Bildern, insbesondere aber von Handzeichnungen
Seurats wiesen diesem Bahnbrecher des Neoim-
pressionismus seine gebührende Stellung in der Kunst-
entwicklung der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhun-
derts. Keiner wußte besser als er in den Zeichnungen
mit den gewischten Konturen mit Licht und Schatten
zu spielen. Die Zeichnungen haben keinerlei gra-
phische Besonderheiten, sondern sind gewissermaßen
einfarbige Gemälde mit dem Kohlenstift. Diese Zeich-
nungen enthüllen das Genie Seurats als Gegenpol
gegen alle modischen Strömungen seiner Zeit.
Seurat gegenüber zeigten die Zeichnungen und
Lithographien von Henri Matisse den klassischen
ornamentalen Stil. Stets sind es leichte und elegante
Kurven, deren Rhythmen geistvoll und mit Ge-
schmack komponiert sind. Sein Eklektizismus grenzt
hart an das Akademische und nur seiner sensiblen
Linienführung ist es zu danken, daß die Wirkung
dieser Werke als „Kammermusik“ empfunden wird.
Eine „multinationale Ausstellung“ gewährte zum
ersten Male einer größeren Gruppe deutscher Maler
die offizielle Anerkennung in Frankreich. Zwischen
Werken der Franzosen, Engländer, Amerikaner und
Schweizer, die sich hier zusammenschlossen, treten
die deutschen Künstler am stärksten in Erscheinung.
Nicht immer freilich ist die Wirkung positiv. Die
empfindsamen Franzosen können mit ihrem subtilen
Gefühl für Harmonie und zarteste Schattierungen
die Kontrapunktik der Farbe, wie z. B. bei Nolde und
die allzueindringliche Deutlichkeit des Linearen bei
Dix und Beckmann nicht ganz erfassen. Solche Bil-
der wirken im Rahmen eines internationalen Quer-
schnitts laut und unharmonisch. Betrachtet man
zusammenfassend die Wirkung unserer deutschen
Malerei auf fremden Boden, so kann man unbedingt
den tiefen Ernst und die Klarheit der Komposition,
die Innerlichkeit und geistige Durchdringung des
Bildvorwurfs als wesentliche deutsche Kunstäußerung
erkennen. Dagegen mangelt ihr die subtile Empfind-
samkeit in rein malerischen Problemen, wie sie Matisse
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