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Kunstchronik und Kunstliteratur — 61.1927/​1928

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Heft 11 (Februar 1928)
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https://doi.org/10.11588/diglit.67422#0127
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KUNSTCHRONIK UND KUNSTLITERATUR

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Denn Erkenntnis ist nicht etwas, was der Fortschritt erreicht;
unsere Schulkinder, die schon von Röntgenstrahlen gelernt
haben, stehen um dieses Wissen nicht höher als Aristoteles,
der noch an das totgeborene Löwenjunge glaubte. Das
letzte Geheimnis, in das Leonardo eingedrungen war, bleibt
für uns heute noch Rätsel wie für seine Zeitgenossen; mit
allen Weisheiten, die wir uns zugelegt haben, fällt uns die
Lösung nicht in den Schoß. Nur ahnungsvoll umtasten wir
sie. Darum erscheinen mir die geistigen Zusammenhänge,
die A. E. Popp in manchen dieser Blätter erkennt und die
ihr aus der intensiven Beschäftigung mit dem Künstler
ahnungsvoll aufgegangen sind, nicht willkürlich oder gewagt,
sondern richtig, und wenn sie sich auch nicht wie die Un-
bekannte aus zwei Gleichungen eindeutig errechnen lassen.
Ich denke z. B. an die ikonographische Interpretation der
Zeichnung Tafel 70 „Pazzia bestialissima“ und Tafel 89,
der rätselhaften Frau. Der psychologische Werdegang Leo-
nardos, wie ihn A. E. Popp darstellt, ist auf allgemein histo-
rischen Elementen basiert — Parallelstellen aus des gleich-
zeitigen Erasmus von Rotterdam Lob der Narrheit werden
herangezogen! — und dennoch zu einer einzigartigen Kri-
stallisierung durch Synthese neugeschaffen; die Richtigkeit
dieser Schöpfung gründet sich auf dem Wiedcr-Lcbcndig-
gewordensein der heraufbeschworenen Persönlichkeit.
Das was Hildebrandt bringt, ist umgekehrt Analyse; es
ist Interpretation, um den Künstler und sein Werk dem
Leser nahezubringen; die überaus reiche und sorgfältige
Illustrierung des ausgezeichnet ausgestatteten Buches unter-
stützt diese Absicht. Bei keinem Teil der Darstellung bekam
ich die Überzeugung, daß der Autor die Materie völlig be-
zwinge. Trotz der „Gegenprobe“ des kritischen Anhanges,
der über die wichtigsten umstrittenen Stücke die Diskussion
eröffnet. Der Autor bekennt sich zur Eigenhändigkeit der
Florabüste: . . . „wir würden angesichts der hohen Qualitäten
der Arbeit als solcher die Wiederherstellung der ursprüng-
lichen Zuweisung an den Meister selbst als die Erfüllung
einer natürlichen Forderung unserer Tage begrüßen.“ So
endet der ausführliche Exkurs über die Büste. Warum aber
hat Hildebrandt dann nicht das Werk, für das er so warm
eintritt, in den Hauptteil hereingenommen?
Hildebrandts Buch bleibt Kompilation; trotz aller Ver-
suche durch den verwandten Ausdruck Goethes dem Wun-
der Leonardo näherzukommen. Das Beste daran ist gewiß
das ehrliche, überwältigte Staunen des Autors, das auch auf
den Leser übergeht. E. Tietze-Conrat
Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite.
Berlin, Georg Bondi, 1927.
Dies Buch aus dem Kreise der „Blätter für die Kunst“
gibt uns eine neue Grundlage zur Einfühlung in jene große
Zeit, wo deutsche, normännische, italienische und sarazenische
Kulturen sich verschmolzen und durchdrangen. Über allem
steht der Kaiser selbst, der — wie keine andere Erscheinung
des Mittelalters durch eine Fülle von Urkunden gestützt -
durch die eindringliche Interpretation der Quellen vor uns
als eine ganz geschlossene Persönlichkeit erscheint und dank
seiner starken Kräfte zur leuchtenden Sonne wird, die durch
ihre Strahlen den ganzen Erdkreis zu neuem Leben erweckt.
Das Verhältnis Friedrichs II. zur bildenden Kunst wird
an mehreren Stellen erörtert und vermittelt uns durch die
Einbeziehung der ganzen historischen Hintergründe ein neues
vielgestaltiges Bild der Kunst dieser Zeit. Der Verfasser
kommt zu keinen neuen Ergebnissen und stützt sich auf
die bereits vorhandene Literatur, vor allem auf F. Bcrtaux’
vortreffliches Buch: L’art dans l’Italie meridionale, Paris 1904,
ohne selbst die strittigen Fragen zu berühren; aber die Art
seiner Darstellung ist würdig, als Beispiel neuen kunsthisto-
rischen Sehens erwähnt zu werden. So erfahren wir (S. 80),
daß der Kaiser mit Vorliebe zisterziensische Laienbrüder
zur Bewirtschaftung seiner Güter und zum Bau von Ka-
stellen und Lustschlössern verwendet hat, daß durch diese
die Gotik in Italien eingeführt wurde und immer mehr den
einheimischen normannisch-byzantinischen Stil verdrängte.

Bei der Betrachtung der Kastelle, die der Kaiser zum Schutze
seines Reiches errichten ließ, wird der Einfluß auf die
preußischen Dcutschordensburgen erwähnt (S. 112). Diese
weit ausgreifenden Beziehungen werden noch deutlicher bei
der Besprechung der „renaissancehaften Frühblüte süditalie-
nischer Plastik“, die in den letzten Jahrzehnten des Kaisers
entstanden ist. „Die gesamte Bildkunst des Kaisers drängte
mit innerster Notwendigkeit zum Altertum hin. Die sizilia-
nische Plastik war erstmals eine rein staatliche „profane“
Bildnerei — die erste große profane Bildkunst des christlichen
Abendlandes überhaupt, wenn man unter „profan“ den
Gegensatz zu kirchlich-religiösen Darstellungen verstehen
will. Denn „heilig“ war ja die weltlich-staatliche Kunst im
Stauferstaate nicht minder“ (S. 81). Die Auswirkungen des
Cäsarentums von Friedrich II., die bewußte Erweckung der
Persönlichkeit war das Neue, das der Kaiser der Kunst und
Kultur seiner Zeit eingab. Goldmünzen werden mit dem
Bildnis des Herrschers geprägt, die der Kaiser nicht ohne
tiefen symbolischen Sinn in der Erinnerung der vergangenen
Größe des Römerreiches „Augustalen“ nannte. Die Bedeutung
des antiken Elementes für die ganze spätere Kunst zeigt
sich in Niccolö Pisano, der aus Apulien stammte und in
seiner Jugend vielleicht einer der namenlosen Bildhauer der
kaiserlichen Werkstätten war, bevor er 1260 die Kanzel im
Battistcrio zu Pisa schuf und damit für Italien „der Bringer
des neuen Sehens“ war (S. 488). So wird der Staufer zum
Stifter der neuen, bewußt aus dem Heidentum schöpfenden
Plastik, zu einem Markstein in der Entwicklungsgeschichte
der italienischen Kunst, der weithin sichtbar bleibt bis in
den Anfang des 15. Jahrhunderts; noch Donatello löste in
der Figur des hl. Georg „einen adligen deutschen Knaben
aus dem Marmor heraus“ (S. 606) als den letzten Ausklang
Deutschlands heroischer Zeit, der Stauferzeit der königlichen
Reiter von Bamberg und Magdeburg. Fritz Neugaß
Ernst von Bassermann-Jordan, Alte Uhren und
ihre Meister. Wilhelm Diebener, Leipzig 1926.
Ders., Die Standuhr Philipps des Guten von Bur-
gund. Ebenda 1927.
In willkommener Weise hat der Verfasser seine während
zwanzig Jahren in Fachblättern veröffentlichten Aufsätze zu-
sammengefaßt und, wo nötig, neu bearbeitet. Die 36 Auf-
sätze behandeln die verschiedensten Stoffe aus einem Ge-
biete, das an den Sammler die vielfältigsten Anforderungen
stellt. Bassermann-Jordan, Von Jugend auf für die Kunst
der alten Uhren interessiert, hat selbst eine bedeutende
Uhrensammlung zusammengebracht, und ist wie kaum ein
anderer vorbereitet zur Erforschung dieses nicht nur kunst-
und kulturgeschichtlichen Fragen aufrührenden, sondern grün-
liche Kenntnisse der subtilsten Techniken erfordernden Hand-
werks. Eine Reihe wertvollster historischer Untersuchungen
und technischer Erfahrungen breitet der Verfasser aus, ein-
zelne Beobachtungen und zusammenfassende Studicnergeb-
nisse, die sein 1922 in dritter Auflage erschienenes Sammler-
handbuch „Uhren“ (R. K. Schneider & Co., Berlin) ergänzen.
Der Quartband ist reich illustriert; auch die zur Zeit in
München ausgestellte Standuhr Philipps des Guten, über die
der Verfasser im gleichen Verlag eine gründliche, die Echt-
heit dieses Werkes erhärtende Studie veröffentlicht hat, wird
abgebildet. Den Uhren der Münchner Residenz und ihren
Meistern ist die umfänglichste Studie gewidmet, wobei die
acht kostbarsten Uhren zum erstenmal farbig „uvachrom“
abgebildet werden. Graul
Bulletin de l’Institut Archeologique Bulgare IV.
1926/27. Mit 139 Textabbildungen und 43 Tafeln. Sofia,
Hofbuchdruckerei 1927. (Leipzig, Otto Harrassowitz.)
Ein stattlicher Band, 375 Seiten in Lexikonformat, in
denen sich wieder der wissenschaftliche Stand des Archäo-
logischen Instituts in bester Weise zeigt. Es ist selbstver-
ständlich, daß hier in erster Linie das heimische Wesen
berücksichtigt ist und die vielfach verschlungenen Fäden der
Entwicklung ausgebreitet werden. Die beiden Führer, die
 
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