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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Wallerstein, Victor: Frankreich und modernes Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0092

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DÄNISCHES KUNSTGEWERBE UND BAUKUNST

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unterstützen, genügen. Mäßig vortretende Voluten, der
Zahnschnitt, leichte Palmetten und Kartuschen oder zierliche
Rokokoschnörkel, das ist das Rüstzeug. Man arbeitet mit
eisernen Balustraden, die den Bau schmücken und gliedern.
Das Resultat ist ein vornehmes und harmonisches Ganzes.
□ Auf diesem Wege arbeitet man fort, ohne den Blick
zum Nachbarn zu werfen. Man spricht heute viel von dem
kosmopolitischen Zuge unserer Zeit. Unsere Verkehrs-
mittel überbrücken, gleichen aus. Moden wandern herüber
und hinüber. Der Panamahut und der amerikanische
Schuh sind gut europäisch, kein nationaler Besitz. Und
doch — die Scheidewand bleibt bestehen und es gibt
selbst kleine Dinge des
Alltags, die unter ihr nicht
wegschlüpfen und große,
die über sie nicht hinweg-
klettern können. □
□ Frankreich hat eine zu
starke Eigenkultur, als
daß es ohne weiteres
fremde Einflüsse verarbei-
ten könnte. Das hat es
niemals getan, immer
müßte eine Verwandtschaft
mit der eigenen Sensibilität
vorhanden sein. □
n Was aber sollte der
Franzose mit den An-
regungen von Deutschland
her anfangen? Die Kunst,
zu der sie führten, ist
seinem Wesen völligfremd;
nicht nur in ihren Ergeb-
nissen, sondern auch in
den Grundlagen zu ihrer
Entstehung. □
□ Den Deutschen mußte
man nur am Gewissen
rütteln, ihn daran erinnern,
was er sich und seiner
Zeit schuldig ist, ihm
klipp und klar erklären,
daß es so nicht weiter
ginge, daß man dort den
Faden verloren hätte, die
Prinzipien aller gesunden
Stile diese seien, folglich
man nur den und den
Weg einschlagen müsse,
um wieder auf frucht-
baren Boden zu stoßen. Die Bewegung setzte heftig,
ja emphastisch ein. War einmal die Einsicht da, so gab
es auch schon Prediger des neuen Heils. Das alte durfte,
mußte fallen, England gab die Anregung, und die aus alter
Kunst abgeleiteten Doktrinen, vermengt mit selbstgefun-
denen, boten den dogmatischen Halt der neuen Lehre.
Die ästhetische Schönheit war eine zusammengesetzte
Größe aus Statik, Moral und Hygiene. °
□ Der Franzose lächelt über eine derartige Verquickung
von Motiven, die an sich mit Kunst nichts zu tun haben.
Für ihn ist Kunst Spiel, Dekoration, nichts weiter.
Er freut sich an einem Rokokostuhl, auch ohne daß
er ihm die Funktion der spielenden Kräfte demonstriert,
und eine Arabeske erfüllt ihren Zweck, selbst wenn
sie innere Tätigkeiten, wie die des Hängens, Spannens,
Fallens nicht ausdrückt. Und sollte man an den Ge-
schmack und die Erfindungskraft der Französin deshalb
nicht glauben, weil für ihre Toilette bei weitem natür-

lichere und nicht in erster Linie hygienische Motive be-
stimmend sind? □
□ Für Deutschland war ein Heil, was für Frankreich ver-
hängnisvoll hätte werden können. Der Franzose läßt sich
durch Argumente des Verstandes nicht zur Produktion
treiben, ln diesem Falle nicht. Selbst der Gedanke an
die Zukunft und ihr Urteil über seine tote unfruchtbare
Epoche kommt bei ihm nicht auf, noch weniger der Wunsch,
eine eigene Welt um sich erstehen zu lassen, in die er
den Ausdruck seiner Persönlichkeit legt. Die historischen
Stile sind einfach auch heute noch seine persönliche Äuße-
rung, sie sind für sein Gefühl noch nicht historisch ge-
worden. Er braucht die
lieben alten Sachen nicht
einmal zu kopieren, der
junge Hausstand erbt sie,
kann sie aber auch im
Hotel Drouot oder in den
zahllosen Antiquitätenge-
schäften kaufen. □
o Und da sind wir bei
einem weiteren, und wie
es uns scheint, wesent-
lichen Argument für unser
Problem angelangt: bei
der Bevölkerungsziffer
Frankreichs. Wann trifft
man in Paris auf einen
Neubau oder wann wird
ein Hausstand völlig neu
einzurichten sein? Die
Statistiken müßten da in-
teressante Aufschlüsse ge-
ben. Ist es aber nicht
natürlich, daß mit einem
kleinen Bedarf der Wunsch
nach Eigenem, Neuem viel
seltener und schwächer
sich aufdrängt, jener
Wunsch, der schließlich
die Kraft bedeutet, das
Neue auch zu schaffen?
□ Und die Zukunft? Wer
wagt es zu prophezeien?
Wie lange wird man so
wirtschaften können? Die
alten Formen sind heute
schon zu Tode gehetzt und
die neuen kraftlos und un-
fruchtbar! Es scheint, als
ob im Augenblick für die höchsten und gemeinsamen Äuße-
rungen einer Kultur nur schwache Kräfte verfügbar seien.
Dasselbe empfindet man auch in der neuesten Malerei.
Es kommt nur zu fragmentarischen oder aphoristischen
Leistungen. Die Welt wartet vielleicht auf einen Messias,
oder sollte ein Messias auf die Welt warten, die ihn durch
stille Einverständnisse stützt, die relativen Größen in ab-
solute wandelt, und ihm als Sprecher des Massenbewußt-
seins Unfehlbarkeit zugesteht und dadurch Größe verleiht?

Aus ■»Künstlerwortei von Karl Eugen Schmidt: □
□ »In Frankreich will man Neuerungen in der Kunst nicht
wissen, und der Farbe steht man nicht nur verständnislos,
sondern geradezu feindlich gegenüber.« Paul Signac.
□ »Hört! Niemals hat es eine künstlerische Zeit gegeben.
Niemals gab es ein kunstliebendes Volk.« Whistler.
 
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