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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

DOI Artikel:
Otto, Karl Heinrich: Die Zukunft des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0114

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DIE ZUKUNFT DES KUNSTGEWERBES

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politisch große Zeiten nicht immer den inneren Frieden
zu gewährleisten vermochten, daß wirtschaftlicher Hoch-
stand nicht die Armut beseitigen konnte, daß ein starkes
Können noch nicht Arbeitsgelegenheit schafft und univer-
selle Bildung noch nicht immer ein Verlangen nach Kunst
und Oeschmackswerten birgt. Das sind eben Zustände
schwankenden Niveaus, mit expansiven Gelüsten. Wir
haben nicht einmal politische oder wirtschaftliche Notlage,
keine drückende Armut, keine beschämenden Bildungs-
mängel, keine ungeschulten Kräfte, keine Gleichgültigkeit
gegen Kunst und Schönheit. Wenn es trotz alledem nicht
stimmt, keine Harmonie zu erzielen ist, so liegt das eben
gewiß nicht an der angeblichen Ungunst, an Fehl-
erscheinungen in der eigentlichen Lebensabwickelung, son-
dern an der Bekundung und Verfechtung vieler Sonder-
interessen und Sonderbestrebungen, deren Erzeuger zu
Fremdkörpern im Gesamtleben werden. Es sind das poli-
tischer Unfriede, religiöse Unstimmigkeit, wirtschaftliche
Habgier, arbeitsscheues Behagen, übertriebener Bildungs-
hunger und entartende Gleichmacherei. Jede Strömung
strebt für sich nach der Insel Utopia ohne Rücksicht auf
das Ganze. o
□ Und das vollzieht sich noch unter ziemlich normalen
Verhältnissen, in an sich noch aufwärts steigender Linie;
wir wären blöde, urteilslos und undankbar, das zu ver-
kennen. Wir leiden tatsächlich nur unter der Zerfahren-
heit dieser auseinanderstrebenden Verhältnisse, unter dem
Übermaß des Persönlichkeitskultus bei jedem Wort, das
gepiepst, bei jedem Plan, der ausgeheckt, und bei jedem
Ei, das mit vielem Gackern gelegt wird. Danach geht’s
auf die Suche nach Verehrern und Anhängern, bis wieder
eine neue Partei, eine kleine Gemeinde oder ein Verein-
chen zustande gekommen sind und Heros, Prophet und
Vereinsmeyer ihr Ämtchen erhalten haben. Wer möchte
die Sonderlüste alle befriedigen. Staat, Kirche, Schule,
Gesellschaft, das Volk und der Einzelne kranken daran;
über die Einzelheit wird das große Ganze vergessen. Wie
ungeheuer viel Schädlinge nagen daran, wie viel Rabbes
sucht der Einzelne an den Gütern der Nation und der
Menschheit zu machen. Nur die Fülle, der sichtbare
Reichtum in diesen vielen Erscheinungen verbirgt die
innere Armut und Haltlosigkeit ihrer Beweggründe. Es ist
eben die Mache, die äußerliche Geschicklichkeit, die hier
entscheidet, getragen von Neid, Mißgunst, Unduldsamkeit,
Rücksichtslosigkeit und Größenwahn. Dem begegnen wir
überall; das Unerträgliche wird eben durch die Gewohn-
heit erträglich. Und wenn die Geschichtsschreibung die
Filtration macht, so stellt sie aus dem Extrakt heraus die
Zensuren für die Völker und Staaten, ihre Förderer und
Bedrücker, ihren Fortschritt und Rückschritt, die Aktiven
und Passiven fest. Das ist dann die Helldunkelmalerei
mit den weichen Kontrasten, tiefen Farben, schmeichelndem
Licht und saugenden Schatten. □
n Wer zwischen den Zeilen lesen kann, wird unschwer
das Schicksal des Kunstgewerbes darin wiedergegeben
finden. Die Gesamtlage, die innere Not, der äußere Glanz,
Aufwand und Leistung, Gesittung und Gesinnung, Gewinn
und Verlust, Verdächtigung, Selbsteinschätzung, Papsttum
und Dogmatik sind hier so gut vertreten wie in einem der
oben gestreiften Einzelbetriebe irgend eines Staatskörpers
oder einer Kirche, eines politischen Klubs oder einer Sippe
gleicher Interessen. Wer sich zu dieser Analyse noch
nicht emporgeschwungen hat, der tut gut, einmal den Ver-
handlungen exklusiver Körperschaften des Kunstgewerbes
beizuwohnen. Hier wird das Urteil gesprochen, die Im-
potenz und Unreife der Außenstehenden verkündet, die
freche Presse gestäupt und den eigenen Helden Hosianna
gesungen. Aber, das erlösende Wort bleibt auch hier un-

gesprochen, die Tat ungetätigt. Obgleich man vorher
genau weiß, was verhandelt und wer angegriffen werden
soll, so handelt es sich doch um eine innere Angelegen-
heit, in der Kläger und Richter eine Person sind und der
Beklagte unter allen Umständen verurteilt wird. Das Ver-
fahren erstreckt sich auf das moderne Kunstgewerbe nebst
Anhang, beginnend bei den fortschrittlichen Vertretern der
Regierungen, den Künstlern und Modernisten, den künst-
lerisch gesinnten Kaufleuten bis herab zu den Schulen,
ihren Leitern, Lehrern und Schülern, den armseligsten
Kunstgewerbezeichner nicht ausgeschlossen. Wollten wir
uns mit dem Urteil begnügen, das Ergebnis der Verhand-
lungen als schicksalsschwängernd ansehen, dann wäre hier
nur noch die Zukunftslosigkeit des modernen Kunst-
gewerbes festzustellen. Dazu liegt nun aber keinerlei
Grund vor, und ich verspüre auch keinerlei Lust dazu an-
gesichts der bisherigen Entwickelung des modernen Kunst-
gewerbes. Man müßte ja geradezu mutlos werden, wenn
Vorgänge in einer Minderheit imstande sein sollten, die
ganze Bewegung einer zehnfachen Überzahl zu diskredi-
tieren und zu untergraben. Wo es noch fehlt, das sehen
wir auch; aber wir nörgeln nicht nur, sondern bessern zu-
gleich; sehen das Bessere nicht als eigentlichen Feind des
Guten an, sondern als notwendige und erfolgreiche Ent-
wickelung. Wir tun auch gar nicht so, als ob nun schon
alles erreicht sei, ob das Ziel nicht nochmals weiterge-
steckt werden müsse. Wir zweifeln auch kaum daran,
daß aus unsern Gegnern noch Mitarbeiter und Förderer
werden könnten. Denn unsere Sache ist keine Vereins-,
keine Personal- oder nackte Berufsangelegenheit, sondern
eine Kulturforderung und Lebensfrage, wobei es um viel
größere Interessen geht: um Sein oder Nichtsein im Kon-
kurrenzkampf der Völker! □
□ Die Sache des modernen Kunstgewerbes ist die Sache
unseres Volkes geworden, und wenn dafür im großen
ganzen bisher nur eine gewisse Teilarbeit für die Be-
güterten und Fortschrittlichen geleistet werden konnte, so
liegt das nicht an der angeblichen Neuheit der Bewegung
und ihrer Loslösung aus dem historischen Rahmen und
vom Hergebrachten, sondern in den Verhältnissen über-
haupt. Es läßt sich hier nichts erzwingen, nichts oktroyieren.
Trotz des gehabten Vorsprunges mußten wir zurückweichen,
damit die anderen nachkommen konnten. Gut Ding will
Weile haben. Man sollte es kaum glauben, aber es ist
so: eine solche Bewegung bleibt nicht an der Oberfläche,
sie kommt auch nicht ganz plötzlich; sie bereitet sich vor,
wühlt von der Tiefe herauf, flutet und ebbt. Manches
Schifflein wirft sie auf den Strand, andere reißt sie im
lustigen Spiel der Wellen mit; nur wenige trifft sie zu
großer Fahrt vorbereitet. Im Aufruhr der Elemente geht
Ballast und Ladung über Bord, entbehrliche und zuviel-
geladene Dinge. Das Kostbarste bleibt Lebensfracht und
wird in Umlauf gesetzt. Das sind alles nur Vergleiche,
um zu zeigen, daß uns nichts in den Schoß fiel, daß alles
mühsam errungen werden mußte durch große Aussaat
und in kleiner Ernte. Aber auch dieser folgte eine Aus-
saat und wieder eine neue Ernte, und so fort bis auf
Brüssel zu, wo wir selbst unter Beschränkung noch große
moralische Erfolge erzielten. □
□ Um die Sache des modernen Kunstgewerbes steht es
also nicht schlecht, und um ihre Zukunft braucht es uns
nicht zu bangen. Wenn es nicht gleich nach aller Wunsch
gehen sollte, mal irgendwo die Stilkopie wieder Mode
würde, so bedeutete das immer nur eine kleine Freude
für unsere Widersacher, keinen Mißerfolg für die Sache
selbst. Wir haben eben gesehen, daß dafür sehr viele
Faktoren in Frage kommen; es handelt sich um keine
Mode, um keine Spekulation, auch um keine Künstler-
 
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