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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Westheim, Paul: Schaufenster und Schaufensterdekorateure
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0139

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SCHAUFENSTER UND SCHAUFENSTERDEKORATEURE

hätte sie die Wäscherin über die Trockenleine gezogen.
Diese Art, das Schaufenster zu einem Panoptikumsspektakel
zu machen, ist ideologisch. Ideologisch, weil sie ausgeht
von einem äußerlichen, vorgefaßten und fremden Einfall,
der in gar keiner Beziehung zur Ware steht. Der verkäuf-
liche Gegenstand wird vergewaltigt und verdorben, damit
eine Dekorationsgeschicklichkeit gezeigt werden kann. Es
fehlt der für das Schaufenster doch allein ausschlaggebende
Anreiz zum Kaufen, weil die Aufmerksamkeit nicht auf die
Ware, sondern von der Ware fort auf die Attrappe gelenkt
wird. Ein großer Aufwand an Arbeit, an Zeit und Material
wird vergeudet. Kostbare Waren werden durch die un-
sachliche und material widrige Behandlung verdorben. Das
Auge des Passanten wird geblendet durch den ungeord-
neten Kribskrabs, der über und nebeneinander, unüber-
sichtlich und unruhig gestapelt ist. Der Blick wird nicht
hingelenkt auf diesen oder jenen Gegenstand, der gerade
verkauft werden soll; was aber schließlich nichts anderes
als eine unzulängliche Ausnutzung eines so wesentlichen
und wichtigen Reklamehilfsmittels bedeutet. n
o Demgegenüber mutet es geradezu komisch an, wenn
von den »Stilvollen« die Wirtschaftlichkeit der neueren
Lösungen bezweifelt wird. Romantik war noch stets un-
wirtschaftlich. Das muß der sachlich abwägende Kaufmann
zu allererst erkennen. Ein Dekorationsprinzip aber, das
ganz auf die Sachlichkeit gestellt ist, das jedes Beiwerk ver-
pönt, um durch die Ware allein zu wirken, muß mit Not-
wendigkeit eindringlicher hinweisen auf den zum Verkauf
gestellten Gegenstand. Es scheint sogar, als ob hierin
schon etwas zu viel getan würde, so daß mitunter eine
gewisse Einförmigkeit, um nicht zu sagen: Langeweile
nicht ganz vermieden ist. Es geht aber nicht an, dieses
Prickelnde, Nervenanreizende, das alle guten Reklamedinge
durchschwingt, der kunstgewerblichen Aufmachung zu
opfern. Auch hierfür gibt es Lösungen, anständige, packende
Lösungen, die- allerdings weder mit einem Rezept von
gestern noch mit einem Rezept für morgen gefunden wer-
den können. Es gibt kein Schema, und es bedeutet auch
nichts, daß ein paar Grundsätze der neuen Raumkunst mit
Erfolg im Schaufenster genutzt werden konnten. Das
Schaufenster ist ja selbst ein Raum, ein Schauraum, für
den noch besondere psychologische Voraussetzungen ge-
geben sind. Gewisse eherne Gesetzlichkeiten wie die tek-
tonische Raumgliederung, die statische Massenverteilung,
die koloristische Zusammenfassung, drängen sich von selbst
auf. Es kann auch nicht heißen: Weg mit allen Falten!
Die Falte kann sehr schön sein; nur muß sie natürlich
fallen, nicht gekünstelt, nicht widersinnig. Das Stapeln ist
beileibe kein Verbrechen, es muß nur eindrucksvoll ge-
schehen. Warenmassen müssen eben als Massen wirken,
müssen einen Massenrhythmus verkörpern. Überhaupt gibt
es keine Ware und keinen Dekorationsbegriff, die nicht
mit Geschmack bewältigt werden könnten. Ganz gleich,
ob es sich um kostbare Einzelstücke oder billige Bedarfs-
artikel handelt; die bewußte Formgliederung ist das Ent-
scheidende, durch die der Dekorateur Macht bekommt über
das Auge des Passanten. □
□ □ □
□ Tatsächlich setzen sich denn auch diese Grundsätze
immer mehr und immer schneller durch. Die Berliner
Schaufenster z. B. haben in den letzten Jahren eine ganz
gewaltige Umwandlung erfahren. Waren es früher nur
die von Fräulein von Hahn unübertrefflich dekorierten
Auslagen bei A. Wertheim, so kann man jetzt schon beim
Chopping manch freudige Überraschung etwa bei Emil
Jacoby, Herrn. Hoffmann, Brühl u. a. erleben. Eine —

wenn auch nicht kleine — Ausnahme machen eigentlich
nur diejenigen, die immer zehn Jahre brauchen, um einen
neuen Wert zu begreifen. Die Wettbewerbe haben starke
Anregungen gegeben und ihr greifbarstes Resultat: die
Höhere Fachschule für Dekorationskunst will systematisch
für geschmackstüchtige Dekorateure sorgen. Von der
Schule sind schon beträchtliche Leistungen bekannt ge-
worden; natürlich sieht man auch hin und wieder ein-
mal ein Fenster, das der Kritik nicht standhält. Das ist
um so weniger verwunderlich, als die Schule sich vorerst
auf eine geschmackliche Weiterbildung beschränkt. Schließ-
lich wird sie aber wohl von selbst dahin kommen, ihren
Unterricht auch auf die handwerkliche Praxis auszudehnen,
so daß nicht nur Menschen entlassen werden, die ein
Schaufenster geschmacklich läutern können, sondern solche,
die mit künstlerischem Geschmack zu dekorieren verstehen.
Der sogenannte »Künstler-Dekorateur«, der bei besonderen
Gelegenheiten herangeholt wird, der — es handelt sich
da wieder einmal um die Kunstgewerbe-Damen, die sich
in jede neue Sache hineindrängen, die heute Plakat-
bewegung, morgen Kinderkunst, übermorgen Volkskunst
und jetzt Schaufensterdekoration machen — das Müffchen
unterm Arm, die Skizze in der Hand dem Fachkundigen das
Dekorieren angibt, muß als Übergangsprodukt schnellstens
verschwinden. Diese Leute müssen wie jeder andere An-
gestellte in den Betrieb hinein. Nur im Betrieb können
sie die unerläßliche Warenkenntnis, den Charakter des Ge-
schäfts, seine Bedürfnisse und seine Reklamenotwendigkeiten
verstehen lernen. Und nur die praktische Arbeit im Schau-
fenster selbst kann ihnen die Überlegenheit sichern gegen-
über den unbelehrbaren Kollegen alten Schlages. □
□ □ □
□ Das Publikum genießt die Resultate dieser Auseinander-
setzungen. Das Schaufenster ist ihm keine Kulturangelegen-
heit, um die man sich erhitzen müßte. Es weiß, daß der
Kaufmann ihm mit seinen Schaufenstern sinnlich schmeicheln
will und es wird den für den Tüchtigsten halten, der das
am besten und mit Hilfe der besten Kräfte versteht. Je
mehr Geschmack es selbst annimmt, um so energischer
wird es aufbegehren gegen eine Verhäßlichung des groß-
städtischen Straßenbildes durch unfähige Dekorateure. □

Theodor Tipps, Die ästhetische Betrachtung
und die bildende Kunst. (S. 507)
□ Der technische Künstler löst erst aus der Naturform
die für die physische Existenzfähigkeit des Oanzen not-
wendigen Funktionen heraus und bringt sie für sich zur
Anschauung. Indem aber diese in das Ganze des tech-
nischen Kunstwerkes hineintreten und Gegenstand der ästhe-
tischen Betrachtung werden, sind sie eo ipso nicht nur
technische oder physische sondern ästhetische Funktionen,
d. h. sie sind Momente einer Lebendigkeit, Betätigung
lebendiger Kräfte. Und sofern sie dies sind, gewährleisten
sie nicht mehr die physische, sondern die ästhetische
Existenzfähigkeit oder den sicheren Bestand des Ganzen für
die ästhetische Betrachtung. Das heißt: sie schaffen
in ihrem lebendigen Zusammen- und Gegeneinanderwirken
das Ganze eines im Gleichgewichte der Kräfte und Tätig-
keiten sich selbst in sicherem Bestand erhaltenden leben-
digen Organismus. □
 
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