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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Hellwag, Fritz: Die grossherzogliche Kunstgewerbeschule in Weimar: Direktion: Henry van de Velde [zugehörige Abbildungen siehe auch auf den folgenden Seiten]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0235

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228

GROSSHERZOGL. KUNSTGEWERBESCHULE IN WEIMAR

(ären Haupttöne gruppieren, mischen sich und zer-
fließen die Nuancen. Bald bildet sich so die Form, aus
dem Kampf und der Bewegung jener Valeurs geboren,
und das Farbengefühl stammelt in den ersten Natur-
lauten des Ornamentes. Es ist klar, daß diese Methode
starke Ansprüche an die Nerven der Schüler stellt
und auch vom Lehrenden eine hohe Begeisterungs-
fähigkeit fordert, die sich von jeder Sentimentalität
weit, weit entfernt zu halten hat. Auch für diesen
Lehrgang besitzt Van de Velde eine Gehilfin von
außergewöhnlicher Begabung. Fräulein Seeligmüller
zeigt eine Art von seelischer Hingabe, die mich
an ein Beispiel von Oskar Wilde erinnert: eine kleine
Nachtigall preist die Schönheit der angebeteten roten
Rose, in süßer Selbstvergessenheit preßt sie die kleine
Brust gegen die spitzen Dornen, ihr Herzblut perlt
in kleinen Tropfen über die grünen Blätter, aber sie
singt und singt ihr schmetterndes Liedlein zum Lobe
der Schönheit. — Treue um Treue: Freude ist der
Liebe Preis. Auch die Schüler geben, was sie haben.
Es ist wunderbar, mit welcher seelischen Energie die
verschiedenen Temperamente reagieren! Heiß, stolz,
keusch zurückhaltend und heiter. Noch ein anderer
Unterschied tritt klar zutage: die getrennten Anlagen
der Geschlechter. Bei den weiblichen Schülern die
passive Sinnlichkeit des Geschmacks, bei den männ-
lichen Schülern die aktive Formbildung, die innige
Verschmelzung der Farbe mit dem mystischen Leben
der abstrakten Linie, ein ausgesprochenes Verlangen,
klare, geistige Konsequenzen zu ziehen. Die weiblichen
Schüler leitet ihre natürliche Veranlagung zur textilen
Kunst. Wie von selbst entstehen auf einer quadratischen
Teilung der Unterlagen aus den Farbenskizzen die
Patronen für Webereien und die Stickmuster. In der
textilen Werkstätte, die Fräulein Börner seit dem Be-
stehen der Schule leitet, werden dann technisch einwand-
freie Arbeiten nach eigenen Entwürfen ausgeführt.
Es gibt in Deutschland wohl keine zweite Kunst-
gewerbeschule, in der eine so sorgfältig eingerichtete


und leistungsfähige Textilklasse existiert. Die männ-
lichen Schüler der Farbenklasse, deren Besuch übrigens
für alle Studierenden der Schule obligatorisch ist, finden
dagegen an jenem passiven Bestehenlassen des individuell
reflektierten Farbenakkordes noch kein Genüge, es
drängt sie zur Freiheit, zur beherrschten Form. Sie
erstreben den schöpferischen Ausgleich der Valeurs,
und ihren Farbenstudien fügt sich, wie von selbst, eine
Gliederung durch die subjektiv belebte Linie ein. Ihre
erreichte, aktive Selbständigkeit tritt in ornamentalen
und figuralen Kompositionen für Glasfenster und jede
Art kunstgewerblicher Betätigung zutage. Jene ursprüng-
liche, rein innerlicheLebensäußerung des Temperaments,
die Linie, ist nun mit dem rezeptiven Element, dem
Farbensehen, zum einheitlichen Schöpfungsakte ver-
schmolzen; eine kunstgewerbliche Umwertung natura-
listischer Eindrücke zu »natürlichen« ist restlos voll-
zogen. □
□ Plastische Studien, denen sich wieder die männ-
lichen Schüler, als von der Natur zum Formschöpfen
besser veranlagt, erfolgreicher widmen, leiten zur Kom-
position in der dritten Dimension über. Die Linien
heben sich und mit ihnen die Flächen, sie graben in
die Tiefe, die Breiten- und Höhenverhältnisse wirken
mit, und als Resultat des Kampfes und Ausgleiches
bietet sich die körperhafte Form dar: entweder als
begrenztes Ornament oder als Zweckschöpfung, die
von ihrer praktisch-dienenden Aufgabe mitbestimmt
wurde. Als Ornament wohl räumlich begrenzt, aber
doch noch Selbstzweck; als kunstgewerblich bestimmtes
Objekt dagegen einem von außen gegebenen Zweck
unterworfen, aber immer noch von der linearen Kraft-
entfaltung (des subjektiven Temperamentes) auch seine
äußere Gestalt empfangend und folgerichtig so ver-
wirklicht, daß es von allen Seiten in guter Silhouette
den Kräftefluß und -Ausgleich deutlich zur Schau
stellt. Jede Überschneidung und Verkürzung ist also
in ihrer Wirkung vorher aufs sorgfältigste bedacht.
Das Resultat solcher Komposition ist ein mit dem
Rüstzeug Van de Veldescher Ornamentik geschaffener
Ausdruck der individuellen Auffassung des Bildners
von dem ihm vorgeschriebenen Gebrauchszweck. (Bei-
spiele dieser Art auf den Seiten 232 und 233.) □
□ Zum Teil denkt und schafft auch der Architekt
so, denn auch der Grundriß eines Hauses ist Aus-
druck seiner individuellen Auffassung des gegebenen
Gebrauchszweckes, wenn auch hier schon die Wünsche
des Bestellers gewichtig mitsprechen. Auch ließe
es sich immerhin theoretisch ausdenken, daß der Ar-
chitekt beim Entwerfen des Grundrisses die, das Kräfte-
spiel und ihren Ausgleich in jener kunstgewerblich-
ornamentalen Art ausdrückende, körperhafte Form des
Hauses voraus empfände, doch kann man schwerlich an
eine befriedigende Verwirklichung solcher Konzeption
glauben, weil sich eben beim Bau eines Hauses ganz
andere und äußere Gesetze der Mechanik aufdrängen, als
etwa bei einer rein plastischen Schöpfung. Das mecha-
nische Tragen, Drücken, Ziehen und Lasten des Mate-
rials liegt und bleibt eben ganz außerhalb der Person
des Schöpfers und ist wieder je nach der Art des
gewählten Materials verschieden; ferner kann und darf
 
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