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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 10
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Carstanjen, Friedrich: Kunstgesetze
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0158
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auserlesene Schaar „Gebildeter" zurück, für welche
das .Kuustgesetz' giltig war, denn sie wollteu es
ja, und hatten es ja sür sich gemacht.

Aber wo begauu die Bitdung, die dazu uötig
war, um zu dieser Schaar zu gehören, wo hörte die
Uubildung auf? Und wenn nun die eine Schaar
dieser Ausertesenen sich zu dem einen Kunstgesetz be-
kannte, konnte nicht mit dem gleichenRechte eine
andere Schaar sich zu einem anderen Kunstgesetz be-
kennen? Man hatte also wohl ein Gesetz, aber ein
willkürlich gemachtes, von der Autorität seines Ur-
hebers abhängiges, kein allgemeingiltiges.

Welcher Dünkel liegt darin, uns und unsere
Zeit als maßgebend für den Geschmack aller Zeiten
hinzustellen; das erinnert an die Anschauung, daß
der Mensch nicht nur die Krone, sondern der Ab-
schluß der Schöpfung sei. Wie können wir, die wir
allenthalben unter dem so mächtigen Entwicklungsge-
danken stehen, gerade in der Ästhetik noch daraus ver-
zichten und so partikularistisch denken?

Nun wird man mir zweierlei einwersen: erstens,
wir können doch ein Durchschnittsurteil aufstellen;
zweitens, wir haben doch Kunstwerke von eiviger
Anerkennung.

Ja, das Turchschnittsurteil! Das sührt gerade
zu dem eben berührten Säuberungsprozeß. Aber ich
lasse es mir gefallen, wenn man nur konseauent
dabei stehen bleibt, wenn man sich nur bescheidet
zu sagen: Für un s, die so und so vorgebildeten
Jndividuen, ist dies und jenes das Schvne. Wer
könnte wohl etwas dagegen einwenden wollen? Aber
leider that man das nicht. Man verallgemeinerte sofort
und sagte, weil nun das Durchschnittsurteil sür uns
so und so vorgebildete Jndividuen dies ist —
darum muß dies auch sür alle Uebrigen gelten.

Man machte aus einem Durchschnittsurteil ein
Gesetz, das Allgemeingiltigkeit haben sollte, und dachte
nicht daran, daß schon durch seine Gewinnung jede
Allgemeingiltigkeit von vorn herein ausgeschlossen
war. Bleibt man hübsch dabei stehen, zu sagen:
Für uns und unsere Zeit ist dies schön, während
sür eine andere Zeit anderes schön war und sein
wird, so hat man Recht, denn der Zeitgeschmack
bildet sich als ein Durchschnittsgeschmack — man
dars darin der Einzelindividuen mit ihren Abweich-
ungen vergessen. Aber — man muß dann auch auf
Allgemeingiltigkeit verzichten; man treibt dann s p e-
zielle Aesthetik. Will man andererseits Allgemein-
giltigkeit, Gesetze, Normen, will man Aesthetik als
Wissenschast im engsten und strengsten Sinn,
so dars man eben die Verschiedenartigkeit der Jndi-
viduen nicht vergessen, dann gibt es kein Durch-
schnittsurteil, dann haben das kleine Kind mit seinem
„Unverstand", der Chinese mit seinen „verwilderten"

Ll-

Anschauungen, der Bauer und Fuhrknecht mir seinem
„rohen" Geschmack dasselbe Recht auf Berücksichtigung
ihres Urteils, wie der üsthetisch seinstgebildete Pro-
sessor. Wie verschieden all diese Menschen-Meinungen
in andrer Beziehung eingeschätzt werden müssen, in-
dem man die Stimmen wiegt, nicht zählt: so lange
wir nach Gesetzen des ästhetischen Verhaltens suchen,
die für die ganze Menschheit allgemeingilrig sein
sollen, so lange geht uns das nichts an.

Den zweiten Einwurf würde mir auch Ranzoui
machen, sagt doch auch er, das Abendmahl Lionardos,
die Madonnen Raphaels seien solche Schöpfungen
von ewiger Dauer der Anerkennung. Auch hier
wäre erst noch das »rannm snlis hinzuzusügen. Wie
die Entstehung dieser großen Kunstschöpfungen sich
nur vollziehen konnte unter gewissen Bedingungen,
die eben erst in der Zeit Lionardos und Raphaels
sich verwirklicht e n , vorher nicht — so ist auch
das Gesallen an diesen Schöpfungen an ganz
bestimmte Bedingungen geknüpst, die eben erst mit
jener Zeit sich ersüllten. Halten wir nun eben diese
selben Bedingungen künstlich fest, (durch die Erziehung
und Vorbereitung in Schule und Haus), indem wir
sie uns immer wieder vor Augen sühren, dann wird
auch das Gesallen bleiben — gehen wir davon ab,
so wird das Gefallen schwinden.

Ranzoni sagt: „Gedichte und Schilderungen,
welche vor Jahrtausenden allgemeines Verständnis
sanden und von den Menschen bewundert wurden,
wirken heute noch geradeso mächtig und herzbezwingend
wie in den Tagen ihrer Entstehung. Der gesesselte
Prometheus des Aeschylos wird vvn allen, die ihn
kennen, der griechische Faust genannt und als der
Goethischen Dichtung ebenbürtig erkannt."

Von allen, die ihn kennen! Darin liegt's. Der
erste Satz enthält diese Worte nicht, er ist darum
auch nicht so unansechtbar; er gehört der speziellen
Aesthetik an. Wenn der gesesselte Prometheus heute
noch anerkannt wird, so liegt das nicht daran, daß
in ihm das ewig anzuerkennende Schöne — weder
ganz, noch in irgend einer Teilsorm — stecke; es
liegt das vielmehr an der intellektuellen Vorbereitung
derjenigen Jndividuen, denen er eben gesällt, einer
Vorbereitung, die schließlich nicht nur durch Schule
und Leben gegeben ist, sondern auch durch Geschlecht,
Rasse, Alter, Nationalität und Jndividualität, durch
Sympathien und Antipathien, durch Beschästigung,
Bildung, Stand, Anlage, Temperament u. s. w.

Also, nicht an den Kunstwerken liegt es in
letzter Linie, wenn sie gesallen, nicht in ihnen liegen
hiersür letzten Endes die allgemeingiltigen Beding-
ungen; diese sind vielmehr in unserer Vorbereitung
zu suchen. Füllt die spezielle Vorbereitung auf be-
stimmte Kunstwerke weg, so fällt auch das Gefnllen
 
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