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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 10
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Carstanjen, Friedrich: Kunstgesetze
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0157

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Lweites Februarbekt ISS7.


10. Dekt.


Iberausgeber:

zferdinand Nvenarius.

Oiertcljährlich 2>/s Mark.

lo. Aadrg.

Nuilstgesetze.

in Buch vun Emerich Ranzoni isl es,
das mir die Anregnng zu den folgenden
Zeiten gab: „Das Schöne nnd die bilden-
den Künste",* ein Buch, wie so viele schöngeistige
dieser Art, voll von geistreichen Bemerkungen und
seinsinnigen Beobachtungen, aber ohne die systema-
tische Grundlage, die doch allein im stande ist, alle
Beobachtungen zu einem sesten Gefüge zu verbinden
und ein organisches Ganzes daraus zu gestalten.

Ranzoni meint, es wären kurzsichtige Menscheu,
welche aus der unbestreitbaren Wahrheit, daß die
Bölker in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung
ganz verschiedene Schönheitsideale hatten, nun schlössen,
daß es für das Schöne keine sesten Grundsätze gäbe.
Das wäre allerdings kurzsichtig, dcnn es wärc die
Bankerotterklärung der Ästhetik als Wissenschast.
Allein — und das ist der springende Punkt — der
Versasser verwechselt hier zweierlei: wenn es in der
Tendenz der modernen Ästhetik liegt, keine allge-
meingiltigen Kunstgesetze mehr anzuerkennen, so gibt
ne darum doch nicht etwa alle „festen Grundsätze"
aus; sie sieht diese vielmehr einzig und allein in
den biologischen Gesetzen, den Gesetzcn also der mensch-
lichen Drganisation, und fie erhebr aus Grund dieser
Gedanken den Anspruch, eine „allgemeine" Ästhetik
zu sein.

Ob nun die bisherige Ästhetik das sogenannte
* Erschicneu >896 bei A. Hartleben in Wien.

Schöne in der „Jdee" allein schaute, oder in der
„Form" allein, oder jwie Ranzoni) in der Bereini-
gung beider, in der vollkommenen Deckung von
Jdee und Erscheinung, immer wird doch damit kein
biologisches, sondern ein besonderes Kunstgesetz, ein
Schaffensgesetz sür Künstler ansgestellt, dem sich die
Genießenden zn beugen haben, das über ihre Köpse
hinweg geschrieben ist und ihre Jndividualität mcht
nur nicht bedenkt, sondern verleugnet.

Nun sind aber nicht alle Menschen, nicht ein-
mal diejenigen eines engeren Gesellschastskreises
gleichgesinnt, gleichgebildet, wie sie nicht alle gleich-
alterig sind: und wie es Kinder und Greise, Frauen
und Männer, Gebildete und Ungebildete gibt, wie
überhaupt kein Mensch vollkommen einem andern
gleich ist, fo ist auch keiner da, der vollkommen so
sieht, hört, spricht und fühlt, wie sein Mitmensch.
Und doch soll sür alle das Kunstgesetz gelren? Nein,
so weit ging man allerdings nicht. Man schied eben
alle hübsch säuberlich aus, von denen man von
vornherein annahm: sür diese gitr das Kunstgesetz
nicht. Bor allem die Kinder und Greise, die Wilden
und Ungebildeten, die wurden hinausgethan. Für
diese w a r ja die Ästhetik nicht, war die Kunst
nicht — oder: sür die Kunst, sür die Ästhetik waren
diese Menschen nicht, die verlorenen Schafe, die von
alledem nichts verstanden. Nun sreilich, nach
diesem Säuberungsprozeß, da behielt man denn eine
 
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