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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 21
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Carstanjen, Friedrich: Naive Kritik und Reflexion im Kunstgenuss
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0333

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Lrstes Nugustbekr lS97.

über

Dichlunq, LiMlcr, Msit «ni> bilScnöc Mnjkc.



Deruusgeber:

Ferdmand Nvenarius.

Vierteljährlich 2>/e Mark.

10. Aakrg.

Daive Nritik und IKeklexion im Ikunstgenuss.

or Jahren wagte einmal ein talentvoller
Sonderling in härenem Gewande, in der
Münchener Kunstausstellung Broschüren
über seine Bilder an Leute zu oerteilen, die an seiner
Art Anteil nahmen; man komplimentierte ihn daraus
in wenig artiger Weise hinaus. Wenn später andere es
klüger machten und ihre Broschürchen gleich mit den
Katalogen verteilen ließen und zwar auch an solche,
die sich nicht im geringsten dafür interessierten,
so sagte man ihnen noch Schmeicheleien obendrein.
Alles will eben verstanden sein.

Früher war man einmal, wenn ich nicht irre,
der Ansicht: das Schöne brauche nicht gelernt zu
werden, um verstanden zu sein. Wie die Blumen
im Garten, wie das Blau des Himmels und der
Berge, so wirke auch die Kunst unmittelbar und aus
sich selbst — schenkend, gebend . . .

Heute hat man die große Entdeckung gemacht,
das gelte nicht mehr, das Schöne sei schwer, so
schwer; es verlange soviel Lernen und Denken, daß
man erst durch jahrelanges Studium dahinter komme,
was es sei und noch weiterer Jahre bedürfe, um
ganz richtig sühlen und verstehen zu lernen —

*) Manchem Leser wirds vielleicht scheinen, als stehe
dieser Aussatz mit unserm vorigen da und dort in Wider-
spruch. Wenn das der Fall ist, hab ich den Sprechsaal
um meine Meinung zu begründen, daß dem nicht so sei.
Jch bringe Carstanjens Aussatz gleich hinter dem meinigen,
weil er den Gegenstand von einer andern Seite besieht,
seine Ergebnisse unterschreibe auch ich durchaus. F. A.

und daß man ohne dies Studium gar nicht mit-
reden dürse und sich hübsch bescheiden müsse zu sagen:
„O, ich verstehe nichts davon!" Wie anders ist
dies Heute gegen jenes Früher.

Man sagt: Ja, bei der künstlichen Dekoration
eines Raumes, da ist das noch etwas anderes; die
wirkt noch „ohne weiteres", versetzt noch ,,ohne
weiteres" in Stimmung — aber ein einzelnes Kunst-
werk!? Gott behüte, welch unbilliges Verlangen,
auch da so ohne weiteres einen Genuß verlangen zu
wollen!

Nennen wir einmal die beiden hier zu unter-
scheidenden Arten des Genießens die naiv-ästhetische,
und die reslektierend-ästhetische. Nun scbeint mir,
daß man beide Arten des Genießens dadurch trennen
will, daß man ihnen getrennte Kunstgruppen als
ihren Jnhalt zuerteilt, daß man sagt, naiv-ästhetisch
genießen könnt ihr wohl die Raumdekoration (wie
auch die Natur), aber ein einzelnes Kunstwerk müßt
ihr immer reslektierend-ästhetisch genießen.

Allein das geht nicht an — so nicht! Beide
Arten des Genießens sind erfahrungsgemäß vorhan-
den, für alle Kunstgattungen vorhanden: beide
Arten des Genießens müssen von einer allgemeinen
Kunsttheorie zugelassen werden, und für alle Kunst-
gattungen zugelassen werden.

Oder wie? Sollen wir wirklich dahin kommen,
die naioe, unbefangene Freude an den Werken der

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