Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

DOI Heft:
Heft 11
DOI Artikel:
Lier, Leonhard: Von der Märchenkrankheit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0173

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lrsres /ibärzbcrr rs97.

U. Dekt.


Iberausgeber:

FerdLnand Nvenarius.

Bezugspreis: . . ^

vierteljährlich 2ps Mark. 1 O

Anzeigen: Zgesp. Nonp.-Aeile«tOpf. *



won der /Ndürekenkrnnkbeit.

enn einmal die Geschichte der liternrischen
Entwicklung der beiden letzten Jahr-
zehnte geschrieben werden wird, wird
die Schnelligkeit, mit der die einzelnen Phasen auf-
einander solgten, ganz besonders in die Augen fallen.
Kaum war das Feldgeschrei: „Lebenswahrheit und
Natur!" verhallt, so wnrde aus demselben Lager der
Rus nach den Rechten der freischaltenden Phantasie
lant. Neben das naturalistische Drama, aus dem
alles nicht unmittelbar als beobachtet sich Verkün-
dende mit bilderstürmerischem Fanatismus verbannt
war, trat die symbolistische Kunst, der Mystizismus,
die Romantik. Die Wandlung ist nur zu begreiflich.

Vergegenwärtigen wir uns den Gang der Ent-
wicklung in den allgemeinsten Grundrissen! Wir
lebten in einer Zeit, da Poesie und Leben neben-
einander standen, wie zwei von einander getrennte
Größen, die sich nichts zu sagen hatten. Diese Poesie
zehrte von alten Ueberlieferungen, sie hatte zur Vor-
lage ein Original, das auf dem Papiere stand, nicht
Leben war. Je mehr die alten Klischees benutzt
wurden, desto mehr verschwammen ihre Umrisse, ver-
schwand ihre Aehnlichkeit. Diese Kunst war ideali-
stisch im schlimmen Sinne des Wortes, weil sie von
nachgedachten Jdeen sich nahrte. Aus der Verirrung
aber wurde allmühlich ein Prinzip; es gatt als un-
ästhetisch, was dem Leben abgelauscht war. Das
Gefühl sür die Poesie der Dinge war verloren.

Dieser Art Jdealismus erschien, wie es Otto Ludwig
einmal ausdrückt, die Wahrheit als zu rein und zu
sarblos; ihr war daher das charakteristische Merkmal
der Schmuck. „Er muß das Große und Schöne erst
mit Flitter umhängen, wenn es ihm groß und schön
erscheinen soll. Das Poetische ist ihm das Ge-
schmückte; von Schmuck umhängt nimmt er die bare
Prosa für Poesie; ungeschmückt scheint ihm die reinste
Poesie ProsaO Ganze Reihen von Erscheinungen in
unserer vornaturalistischen Literatur (und auch der
späteren!) sind mit dieser Ludwigschen Umschreibung
des sogenannten Jdealismus gebührend und aus-
reichend gekennzeichnet; es ist der Jdealismus der
Form, die Poesie des Scheinens, des Klingklangs,
der Phrase, der Pose, der Manier.

Gewiß fehlte es auch an Vertretern eines echt
künstlerischen Realismus dainals nicht, auch mag es
zugestanden werden, daß der sormalistischen Kunstüb-
ung Geister nicht mangelten, die durch die Stärke ihres
subjektiven Temperaments ihre formalistische Schwäche
mehr oder weniger oergessen ließen. Beide aber waren
in der Minderzahl und nn össentlichen Geschmack
dementsprechend minder wirksam. Der nun entbren-
nende Kamps aber richtete sich gegen die kompakte Ma-
jorität, die oben gekennzeichnet ist. Jhr gegenüber war
der Rut nach Natur sehr gerechtfertigt. Ilnd noch eines
kam hinzu: die Wandlung im politischen Sinne. Die
„alte Kunst" erschien als eine Kunst der Bourgeoisie,
 
Annotationen