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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 14
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Rundschau
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0232

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massen hineinkomponieren, und dee Städtebauer muß in
seinem Plane dafür Vorsorge tressen, daß sie durch die
Konstellation der Gebäude und sonstiger baulicher Gegen-
stünde zu Wege kommen.

Es wäre nuu thöricht, zu behaupten oder zu oer-
langen, daß nur mit Unregelmüßigkciten alle diese Wir-
kungen erzielt werden müßten. Der Villenbau der italieni-
schen Renaissance und die Kunst des Barocks haben uns
gelehrt, daß es manche Aufgaben gibt, derell beste Lösung
in streng durchgeführter akademischer Regelmäßigkeit zu
suchen ist. Es ist dies der Fall überall da, wo erstens
die Örtlichkeit in sich keine Unrcgelmäßigkeiten hat, wo
solche also willkürlich in die Natur der Verhältnisse hin-
eingetragen werden müßten, und wo zweitens der Bau-
künstler ein einheitliches, unabhängiges Ganzes zu schafsen
und nicht nur die Planlegung, sondern auch den Ausbau
in seiner Hand hat. Große, in symmetrischer Architektur
aufzusührende Monumentalbauten, die berusen sind, ihre

Umgebung zu beherrschen, verlangen gebieterisch Vor-
räume, in denen ihre Regelmäßigkeit sich vorbereitet oder
in denen sie ausklingt. Die Pariser „Avenuen" mit ihren
„lloints cke sind deshalb nicht schlechterdings zu ver-
achten und verdienen Nachahmung, wo nicht die Vielge-
staltigkeit des ösfentlichen Lebens Bauherr ist, sondern
wo der Wille eines einzelnen zu erfüllen oder ein in sich
abgeschlossenes Problem zu lösen ist.

Jm modernen Städtebau dürsen wir auch lange
grade Straßen mit parallelen Fluchtlinien nicht grund-
sützlich ausschließen, sedoch mache ich für sie zur Vorbe-
dingung, daß sie dann Alleestraßen sein müssen, womög-
lich aus beiden Seiten ruit Vorgärten versehen, also Pro-
menadestraßen, in denen der Mangel nn architektonisch
malerischer Wirkung durch lebendigen Pflanzenwuchs er-
setzt wird. Sie entfallen damit den eingehenderen Be-
trachtungen, die ich mir hier zur Aufgabe gestellt habe.

Sprecbsaal.

Lhrysander 's bs äud el - E inrichtungen.

Wenn ich mit den solgenden Zeilen auch die Leser des
Kunstwarts auf eine Erscheinung wie Chrysanders
Hündel-Einrichtungen aufmerksam mache, so geschieht
es in dem festen Glauben, daß dieser wiedergeboreneHändel
thatsächlich eine noch nicht abzusehende Bedeutung hat auch
sür die Kunst der Gegenwart, der ja der Kunstwart
in erster Linie seine Aufmerksamkeit widmet. Dieser
Glaube stützt sich auf die Erwägung, daß „die gesamte
musikalische Bildung der Gegenwart aus nichthändelschen
Quellen geslossen ist", daß aber eine Persönlichkeit wie
Händel unbedingt berufen ist, gewaltigen Einfluß auszu-
üben, und daß dieser Einsluß gerade sür die Kunst der
Gegenwart höchst segensreich sein würde. Natürlich soll
jetzt nicht eine Händel-Schule heraufbeschworen werden,
aber Hündel-Geist können wir in der Musik brauchen mehr
denn je: gesunden, krüftigen, natürlichen Geist, dessen
frisches Wehen die Krankenstubenluft, die es auch in der
Musik schon gibt, reinigt und bessert. Und dazu soll uns
helsen die genauere Bekanntschaft mit Händel, die uns
Chrysander mit seinen Oratorien-Einrichtungen
vermitteln will. Denn, was wir bisher gekannt
haben, war garnicht der echte Händel! Der
Händel, den uns Chrysander gibt, unterscheidet sich von
dem alten in Bezug auf die Behandlung des Or-
chesters, der Siügstimmen und in Bezug auf
die G esamtr ed aktion.

Die beiden ersten Punkte sind mehr technischer Natur
und können hier nur kurz gestreift werden. Das Orchester
des „neuen Händel", wie wir ihn kurz nennen wollen,
fordert zunächst die Mitwirkung von Orgel und Klavier
zur Stützung der gesamten Begleitung, d. h. die Berück-
sichtigung der alten bezifferten Lontinuo-Stimme, die
Chrysander bei seinen Einrichtungen vollständig aussetzt,
und außerdem chorweise Besetzung der Bläser (8 Oboen
u. s. w.). Welche Bedeutung diese Neuerung hat, kann
man nur begreifen, wenn man Gelegenheit hat, eine der-
artige Aufführung zu hören und mit einer im alten Stile
zu vergleichen. Festzuhalten ist dabei: Händel hat
thatsächlichsür derartigeBesetzung geschrieben!
Jst man da nicht verpflichtet, seinen Jntentionen zu folgen?
Oder dars man etwa Liszt oder Wagner oder Strauß mit
-t statt ^6 ersten Geigen spielen? Also! Vielleicht sehen

das allmählich alle Musiker ein, heutzutage sind die
„Alten" noch in der Ueberzahl.

Die Neuerungen, will sagen Regenerierungen in den
Singstimmen beziehen sich vor allem auf die Anwen-
dungen der ausschmückenden Koloraturen. Es steht sest:
Händel hat die G es a ngsp a r t i en nicht so auf -
sühren lass en, wie er sie a ufschrieb; dieAusschmück-
ung wurde den Sängern überlassen, die zu dem Zwecke
in der „Kunst des Variierens" genau unterwiesen
wurden! Wir haben bisher, musikgeschichtlich ungebildet
wie wir waren, nur die nackten Noten gesungen und z. B.
aus dem ck-c capo absolut nichts zu machen gewußt, haben
gesagt, das sei langweilig, und habens uns meistens ein-
sach geschenkt. Jetzt kommt Chrysander, der die alten
Gesangsschulen und die Praxis Händels jahrzehntelang
studiert hat, fügt in das ckg. cmpo genau im Stil Händels,
teilweise nach eigenen Aufzeichnungen des Aleisters,
Melismen ein, und die erstaunte Musikwelt sagt, soweit
sie vernünftig ist: „Ja, Bauer, das ist ganz was andersl",
soweit sie einen Zopf hinten hüngen hat: „Steiniget ihn!"

Das Wichtigste ist aber für das große Publikum der
dritte Punkt, die G e samtr edaktion der Werke, d. h. ihre
Einrichtung sür den Konzertgebrauch. Es ist selbstver-
stündlich. daß sich in Händelschen Werken, genau so wie
in denen anderer Meister, Nummern finden, die dem
Geschmacke der alten Zeit Rechnung tragen, für uns aber
wenig genießbar sind, daß serner manche Stücke sür den
Aufbau des ganzen Werkes überslüssig sind oder schwächere
Kunstteistungen darstellen.

Warum sollen wir uns durch solche Teile den Genuß
am ganzen Werke verderben lassen? Chrysander geht
hier radikal vor und sch^mt den Blaustift durchaus nicht.
Auf diese Weise erreicht er außerdem, daß die großen
Chorwerke Hündels, die unser Publikum meist schon
ihrer Länge wegen fürchtet, auf die heutzutage erträgliche
Lauer zusammengezogen werden.

Wer das eine Verstümmelung oder Vergewaltigung
nennt, dem ist nicht zu helfen; jedenfalls ist nur auf
diese Weise zu erreichen, daß das große Publikum die
Oratorien Hündels wirklich genießen lernt. Und daß das
Publikum an diesen Werken Freude findet und sie mit
Jubel begrüßt, das haben bisher alle Aufführungen von
Hündelschen Oratorien in dieser neuen Fassung bewiesen.



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