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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 22
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Bie, Oscar: Fahrrad-Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0349

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22. Dett.


Deruusgebcr:

zferdmand Avenarius.

l?ierteljährlich 2'/e Mark.

10. Zadrg.

Fabrrad--Aestl)etik.

/^^^^as neueste Spielzeug der Menschen scheint
mir sür die Kunst nicht bedeutungslos zu
sein. Wie alle die großen Spielzeuge, die
Eisenbahnen, Photographien, Telephone, durch die
keiner glücklicher geworden ist, die man aber nicht
entbehren kann, nachdem sie einmal da sind, wird
auch das Rad in kurzer Zeit ein Kulturfaktor sein
— aber darüber hinaus unterscheidet es sich von
anderen ähnlichen Einrichtungen durch einen starken
individueüen Wert, und dieser gibt zu ästhetischen
Betrachtungen Anlaß. Man hat ja seit zwei Jahren
in hunderten von Zeitungsfeuilletons gelesen, wie
das Rad den Verkehr wieder individualisiert, wie es
dem Einzelnen Zeit und Freiheit wieder gibt, wie
es kostenlos die Entsernungen aushebt und den Druck
der Großstadt mildert. An diesem letzten Punkte
setze ich an und betrachte den indioiduellen Wert des
Radelns nach drei Seiten hin.

Das Zweirad ist aus der Straße das einzige
Ding, welches nicht stillhalten kann. Jm Halten
sällt es, im Fahren steht es. Jn diesem Zwang
der ewigen Bewegung, in dem Zwang der ewigen
Balance sindet es seine Seele. Das Dreirad ist
unbeseelt, weil es selbstverständlich läuft, weil es
eine Maschine ist. Die kleine Bezwingung der
Schwierigkeiten macht das Zweirad zu einem Teil
des Menschen, es setzt Flügel an seine Füße und
verliert den Maschinencharakter. Jeder Ansänger

macht den Moment durch, in dem er das erste Mal
das Rad unter sich als einen Teil von sich selbst
sühlt: es geht plötzlich eine leichte Welle durch seinen
Körper, und er sühlt nicht mehr die Last der Maschine.
Von diesem Augenblick an hat das Rad Leben von
seinem Leben erhalten. Das Pferd wird nur zur
Hälste zum Teil des Reiters, zur Hälfte behült es
ein eignes Leben, dessen Rasse sein unüberwundener
Reiz ist. Das Rad aber geht ganz in seinem Reiter
aus, und dieser sühlt die Überwindung der Maschine.
Der Radler ist der erste moderne Mensch, der die
Überwindung der Maschine erlebt; kein Hilseleisten
mehr, sondern ein Aufgehn in das Wesen und den
Bewegungsmechanismus des Menschen. Es ist ein
innerer, kein äußerer mechanischer Prozeß, der ihn
aus dem Rade hält. Am Ansänger kann man es
beobachten, wie man am Kinde den Menschen beo-
bachtet hat. Der Ansänger muß magnetisch in den
Wagen hineinsahren, den er ängstlich anblickt; er
muß magnetisch dre Volten mitmachen, die ihm ein
anderer Radler vormacht; er lernt allerlei interessante
nervöse Zustände kennen, die in diese große Zwischen-
zeit sallen, in der das Rad in ihn hineinwächst. Die >
äußere Balance kommt ihm schnell genug durch die
innere. Von Fahrt zu Fahrt fühlt er, wie sich die
Maschine entmaschint und an seine Füße wächst. Er
hat schließlich die Fußslügel gewonnen, die ihm keine
Eisenbahn, kein Wagen ersetzen kann, da diese Ve-

4,


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