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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 3
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Bie, Oscar: Vom "Geschmack"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0043

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3. Dekt.


IberausgLber:

zferdmand NvenarLus.

vicrtcljährUch 2>/2 Mark.

1O. Zadrg.

wom „Gesekmack."

au kauu sich eiu Jahr lang über deil
Geschmack deu Kops zerbrechen, und ivird
uicht mit Sicherheit herausbriugen, was
daS eigentlich ist. „Geschmack" gehört uuter die
Worte, vor deuen alle Meuscheu so tiefe Verbeugungeu
macheu, daß sie sie uicht cinmal geuau beseheu könueu.
Daß man Geschmack habeu muß, ist eiu so altes Ge-
wohnheitsgesetz, daß mnn gar nicht wagt, deu Ge-
schmack zu desiniereu, ordentlich aus Angst, die Ana-
lyse köunte eine Verdächtigung seiu. Jeder lM eiue
wahre Furcht für seiuen Geschmack. Und um uicht
dem eutsetzlicheu Fluche der Geschmacklosigkcit zu ver-
fallen, hat mau schou vor Huuderteu von Jahreu das
vielgewendete Sprichwort erfundeu, daß über Geschmack
nicht zu streiten sei. So kanu jeder sageu, er habe
Geschmack, und weuu seiu Nachbar eiueu audern Ge-
schmack hat, können sie beide die Achseln zucken uud
mit dem Sprichwort sich trösteu. Sprichwörter be-
weisen alles.

Weuu mnu sich daher im Reiche des Geschmncks
umsieht, siudet mau eigeutlich keiueu Geschmack, sou-
deru nur Geschmäcker. Wenu es iu deu süufziger
Jahren geschmacklos war, euge Armel zu habeu, uud
iu den siebziger Jahren wieder die weiten Ärmel und
in deu ueuuziger Jahreu wieder die eugeu geschmacklos
siud, so sieht man, daß der Geschmack zum mindesten
au die Zeit gebuudeu ist. Wenu mau aber weiter
wahruimmt, daß im Jahre s896 dieselben weiten

Ärmel vou einer Müncheuerin so und eiuer Wieueriu
wieder so getragen werdeu, daß sie sich gegenseitig für
geschmacklos erklären, so sieht man zum zweiteu, daß
der Geschmack auch von der Person abhäugt. Daraus ist
büudig zu schließen, daß der Geschmack keiu Gesetz,
keine Thatsache, keiue Wirkuug ist, sondern nichts als
ein Urteil. Dara«fhin muß mau sich ihn näher
beseheu.

Kein Schlagmort ist eiu Wort, das bloß eiu
Wort ist. Jrgend ein Begriff verbindet sich schließlich
doch damit, uur pslegt er recht vage zu sein, da die
Schlagworte gewöhulich dazu beuutzt werdeu, Waffe
im Kriege zu seiu. Auch „Geschmack" gehört dazu.
Der Vorwurf der Geschmacklosigkeit war von jeher
ein Hidlicher uud iu dem häuffgen Gebrauche dieser
Waffe dehnte sich der Begriff so aus, daß sast die
Kouturen verschwanden. Jch erkläre mich für un-
sähig,.das Weseu des Urteils, das der Geschmack dar-
stellt, voll zu umfasseu. Glaubt mau den Schlüssel
zu haben, so tritt am nächsten Tage irgend ein Ge-
schmackssall eiu, der in die Rubrik nicht stimmt. Aber
ich glaube aus dem richtigeu Wege zu sein, wenu ich
aus der Abhängigkeit des Geschmacks von Zeit uud
Person folgeude Schlüsse ziehe. Zeit und Person sind
Gegeusätze — es sind die alten Gegensätze von Typus
uud Jndividuum. Das Wesen des Zeitstils veruichtet
das Jndividuum und umgekehrt. Der Geschmack ist
der Versuch einer Versöhnung zwischen beiden, der

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uber

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