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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 1
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Avenarius, Ferdinand: Ein Traum, oder mehr?
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0013

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ktang. Daß ich vor euren Bühnen rveilen dürfte,
nun sie Tempel geworden sind ernster oder heiterer
Enthüllung dessen, was euch im Offenen oder Ver-
borgenen bewegt. Daß ich eure Dichtung vernehmen
könnte, nun sie wieder die helle Stimme derer ist,
die vorangeschritten sind und zu sich rufen. . .

Jst der Mann, der diese Zeilen geschrieben hat,
nichts als eben ein Schwärmer gewesen? Vielen
von uns werden seine Vorstellungen von Kunst er-
scheinen, ich möchte sagen: wie Karikaturen nach der
Seite des Angenehmen hin, wie phantastische Unmög-
lichkeiten, bei denen mit all dem Eisernen der Zeit
nicht gerechnet ist. Die düstern Fragen, die drohend
vor unserm Geschlechte stehen, sind sie hier ganz und
gar übersehen worden? Stellen nicht die ethische,
die soziale, die wirtschastliche Kulturentwicklung For-
derungen an uns Deutsche, denen zu genügen unend-
lich dringlicher ist, als all die Versuche sind, eine
neue Kunstblüte heraufzupslegen?

Wer unsere Blätter seit längerer Zeit liest,
weiß, daß wir glauben, solche Fragen seien nicht
richtig gestellt. Den Zielen nachstreben, auf die darin
hingewiesen ist, und zugleich das Kunstempfinden ver-
kümmern lassen, uns scheint es dasselbe, wie eines
Kindes Leib und Geist wohl zu ernähren, nicht aber
zu pslegen und zu üben oder doch nur so einseitig.

daß bei allen Mühen ein Krüppel erwüchse. Ver-
nachlässigten wir auf die Dauer die Bildung der
großen Gruppe von Sinnen- und Seelenfähigkeiten,
deren Bethätigung wir Kunst nennen, wir w ü r d e n
statt harmonischer Vollmenschen ein Geschlecht vou
Krüppeln. Nun tritt ja in der Entwicklung. der
Völker bald die eine, bald die andere Seite der
Kultur nrehr in den Blickpunkt des allgemeinen Be-
wuhtseins, dann den größeren Teil der Kräste auf
sich lenkend. Daß sich die Hauptarbeit unsres Volkes
jetzt auf jene gewaltigen Probleme lenkt, ist eine
Notwendigkeit, und je thatkrästiger es geschieht, um
so mehr hat es auch u n s Stille im Lande zu er-
sreuen, uns, deren Begabung vielleicht andersartige
Arbeit verlangt. Diese unsere Arbeit ist uns ja
vorgezeichnet: ivir haben Hüter derjenigen Güter der
Menschheit zu sein, die so wichtig sind wie jene
anderen, in der Gegenwart aber im Schatten stehen.
Kreist die Welt weiter, kommen sie wieber ins Licht.
Dann wird man uns sragen dürfen: ist der Samen
noch keimkräftig, den ihr zu bewahren hattet?

Jst er es noch — vielleicht, daß dann eine
Kunst heranblüht, ühnlich der von unserm alten
Herrn erträumten, eine Kunst, die nicht mehr Luxus
und Spiel ist, sondern Ausdruck einer Kultur,
eine alles durchtönende Sprache zu Austausch, Ver-
ständigung und Förderung allen Empsindungslebens.

N.

N u n d s cb a u.

Dicbtung.

* ^cböne Ltteratur.

Am A r b e i t s m a r k t. Roman von A. von G e r s-
dorff. Zwei Bünde. (Dresden, Carl Reitzner.)

Wenn ich sehr viel Zeit hätte, würde ich dem deut-
schen Zeitungsroman, und Zwar sowohl dem der illustrier-
ten Wochen- wie dem der Tagesblätter, eingehende Aus-
merksamkeit schenken. Jch halte nämlich dafür, datz er
kulturhistorisch ebenso wichtig, ja, wichtiger ist als der
Literaturroman, wird er doch unendlich viel mehr gelesen,
und zwar von einem Publikum, das viel mehr zu beein-
slussen ist als das wirklich gebildete, das literarisch ge-
nietzt. Die Annahme irrt, datz der Zeituugsromau regel-
mätzig der eigentlich literarischen Bewegung nachhinkt; er
steht in mancher Beziehung dem Leben näher als der
Literaturroman und verwendet gern aktuelle Stoffe. So
habeu wir z. B. noch keinen guten deutschen Kolonial-
roman, so viel ich wenigstens weitz, Zeitungsromane, die
Kolonialstoffe behandeln, gibt es aber zu Dutzenden; es
ist ferner das Treiben der Spieler- und Wucherkreise,
das durch sensatiouelle Prozesse ans Licht kam, noch
kaum in einem ernsten Literaturwerk behandelt worden,
der Zeitungsroman aber hat es nach Krüsten ausge-
schlachtet. Die Beispiele tietzen sich wohl noch bedeutend
vermehren. „Am Arbeitsmarkt" nun ist ein echter Zeit-

ungsroman, aber keiner der schlechtesten. Er bringt das
Schicksal einer in beschränkteu Umständen lebenden Ofsi-
ziersfamilie, wie sie oft geschildert worden sind, mit dem
eines ziemlich rohen, aber sich dann kultivierenden ost-
preutzischen Oekonomen in Verbindung, hat einige reichlich
brutale Szenen, die sür das Eindringen des Raturalismus
in den Unterhaltungsronran zeugen, und im Ganzen mo-
dernen sozialen Geist. Einige Gestalten aber scheinen
aus Gutzkows „Rittern vom Geist" herübergeweht, die ja
schon manches Naturalistische vom Berliner Pflaster auf-
lasen. Bei einem Unterhaltungsroman muß man be-
kanntlich stets fragen, nicht: Was hat der Versasser erlebt?
sondern: Was hat er gelesen? A d o l f B a r t e l s.

Daredjan. Mingrelisches Sittenbild von A. Gun-
daccar vonSuttner. 2. Auflage. i Dresden, E. Pier-
sons Verlag, Mk. 4.^.)

Der Roman hat die zweite Auslage, sürchte ich, nicht
wegen seines künstlerischen Verdienstes, das nicht besonders
grotz ist, sondern wegen der Pikanterie seines Jnhaltes
erlebt. Er bringt die Geschichte einer mingrelischen Fürsten-
tochter funter Fürst darf man sich hier aber nichts be-
sonders Grotzes vorstellen), die infolge ihrer Ratur und
ihrer pariserischen Erziehung sittliche Abwege einschlügt
und zuletzt zur Dirne wird. Datz solche Stoffe dargestellt
werden können und unter Umständen müssen, darüber sind
 
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