Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Bartels, Adolf: Dekadenz
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0128

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


überwinden nne die soziale Bewegung in die richtigen
Bahnen zu leiten, eine freie Gesellschaft oon Ange-
hörigen aller Stände, die den Glauben an sich selbst,
ihr Volk, die Menschheit noch nicht verloren oder aber
wieder gewonnen haben. Nein, bei nns in Deutsch-
land ist Hosfnung auf Ueberwindung der Dekadenz.

Neben dem Versall ist in der Regel auch Anf-
schwung, sagte ich oben. Die alte Welt ist allerdings
untergegangen, als sich im römischen Weltreiche
unserer Dekadenz ähnliche Erscheinungen zeigten. Aber
wir dürfen vom Altertum nicht aus die Neuzeit
schließen; die moderne Kultur ist nicht die eines ein-
zigen Weltreiches, sondern sie wird von zahlreichen
Völkern getragen, die nach Alter, Krast und Gesund-
heit sehr oerschieden sind. Wir Deutschen wenigstens,
glaube ich also, dürfen getrost aus die Zeichen des
Ausschwirngs sehen. Zumal aus dem Gebiete der
Literatur und Kunst sind diese seit nun einem Jahr-
zehnt gar nicht zu verkennen; denn nicht nur, daß

die Herrschast des Epigonentums und des Konven-
tionalismus vor nun einem Jahrzehnt gebrochen
wurde, daß sich der Wahrheitsdrang aus allen Ge-
bieten der Kunst mächtig zeigte, daß der soziale Geist
in alle Verhältnisse eindrang, - es sind unbedingt auch
eine Reihe von Künstlern, eine Anzahl künstlerischer
Leistungen hervorgetreten, die Zeugnis ablegen, daß
neben aller Neberkultur noch elementare Kräste wirk-
sam sind, die anders nirgend woher stammen können,
als aus gesundem Volksurgrunde. Das Zeichen völ-
liger Ueberwindnng der Dekadenz würde das Aus-
treten eines einsachen, inächtigen, alles beherrschenden
Genies sein. Aber selbst wenn dieses einstweilen noch
ausbleiben sollte, dürfte doch aus dem immer stärker
werdenden Zug unserer Kunst nach oben, d. h. zur
Gesundheit, Freiheit und Größe der Beweis geliesert
werden können, daß unsere Dekadenz nur eine Zeit-
krankheit und nicht die Todeskrankheit der deutschen
Kultur ist. Ndolk Kartels.

N u llds cb a u.

Dicktung.

* Nnncttc vcn Drostc-Dülsbctk ist mm auch schon
seit hundert Jahreu geboren, ihr Name aber, hochgebenedeit
bei den Wenigen, ist den Vieten immer noch ziemlich fremd.
Reine, „etementare" Poesie hat sie nur selten gehoben; es
ist fast immer ein Beschreiben, Nachsinnen, auch wohl
Reden zwischen den schier reflexartig unmittelbar aus den
Tiesen auftauchenden besreienden Worten. Aber was sie
als Dichterin that, das that sie ganz, ehrlich ohne die
Spur von Pose, mit einem Sichversenken in ihren Gegen-
stand bis zum Aufgehen darin, mit einem heiligen
Kunsternste. Jhre Seele und der Stoff, nichts Drittes
mischte sich semals in die innige Verschmelzung dieser beiden.

Mich wundert, daß sich die modernen Realisten nicht
häufiger auf Annette Droste als auf eine Vorläuferin
berufen. Denn insbesondere Naturbilder hat nicht nur zu
ihren Lebzeiten kein einziger mit so geradezu naturalistischen
Kunstmitteln gestaltet wie sie, nein, selbst jetzt noch geht
darin kaum einer weiter als sie. Künstler wie Liliencron
sind in dieser Beziehung unzweiselhaft ihre Schüler. Sie
war von einer llnabhängigkeit von den poetischen Moden,
wie kaum se eine zweite dichtende Frau. Mit gleicher
Begabung aber minder selbständiger Persönlichkeit wäre
sie ja auch nie unsere bedeutendste Dichterin geworden.

Daß sie das gewesen, müssen wir ihr ohne jede Ein-
schränkung zugestehen. Zu den stolzesten Größen der Lprik
kann ich sie nicht rechnen; ein Mörike nicht nur, auch ein
auf dem Gebiete der Lyrik so wenig genannter wie Hebbel
überragt sie an künstlerischer Kraft. Aber sie steht doch
unter den wenigen, welche die Lyrik nicht nur bereichert,
sondern auch gesördert haben. Und ihre wahrhast edle,
starke und stolze Persönlichkeit vereinigt in sich und damit
in ihrer Poesie die allerbesten der Eigenschasten, die
wir Deutschen gerade unserem Volke so gern nachrühmen.

* Scbönc Llterutur.

Das ueue Gewissen. Erzühlung von Adols
Voegtlin. (Leipzig, H. Haessel.)

Das Vaterwort. Nach dem Tagebuch eines
Freundes. Von Adolf Voegtlin. iAltenburg, Stephan
Geibel.)

Vor ungesähr Jahresfrist konnten wir an dieser Stelle
das Jnteresse der Kunstwartleser aus einen Band Novellen
eines in Deutschland noch zu wenig bekannten Schweizer
Dichters hinlenken, aus Voegtlins „Heilige Menschen".
Was wir damals von ihm aussagten, daß eine schars um-
rissene, eigenartige Persönlichkeit und ein zielbewußter
Künstler mit ihm auf den Plan trete, der unter dem Ein-
slusse Kellers und Meyers und doch als selbstgerechte
Persönlichkeit dastehe, — das bestätigen die beiden uns
vorliegenden Bücher in der ersreulichsten Weise. Noch
mehr, der Dichter hat sich selbst in noch weiterem Maße
entdeckt, er ist noch mehr er selbst geworden nls srüher.
Ging er in den „Heiligen Menschen" mehr darauf aus
einen seelischen Konslikt nach allen Seiten zu beleuchten
und zu entwickeln, und blieb er daher, trötz der Vertiefung
des Falles, doch in dessen Enge, so strebt er jetzt mit aller
Energie zum Großen, Allgemeinen, ohne doch in dem Ein-
zelnen, dem Sinnbilde des Allgemeinen, an sesselnder lln-
mittelbarkeit und individueller Wärme zu oerlieren. Dabei
schwebt ihm ein Jdeal der Volkspüdagogik vor; sein Held
ist ihm der Zukunftstypus des Schweizer Volkes nach
seinem Herzen, aber der Dichter schafft nicht in trockener, di-
daktischer Manier. Wie sich sein Held aus dem Banne alter
Vorurteile emporringt zu einem neuen Gewissen, so ringt
sich auch aus der Handlung, oon Schritt zu Schritt kräftig
und überzeugend wachsend,. der neue Geist empor, aus
dessen Jungbrunnen ein neues, freier denkendes und seines
Wertes bewußtes Volk erstehen soll. Befreit aber werden
muß das Volk von den Satzungen des alten Gewissens,



118
 
Annotationen