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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 6
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Avenarius, Ferdinand: Das Talent bricht sich Bahn?
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0093

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Lweiles Dezemberbekt lSSS.

o. Dett.


Derausgeber:

Ferdinand Ävenarius.

vierteljährlich Mark.

w. Zakrg.

Dns Tnlent briekt sieb Wabn?

Gut haben wir Deutschen doch vor den
anderen Völkern voraus: unsere Weihnachts-
zeit. Jch sagc nicht: unser Weihnachtsfesh
denn das ist ja überall schön, wo es von herzlichen
Menschen gefeiert wird. Aber die Wochen vorher
mit der geheimen Erregung überall, mit der All-
gemeinheit dieses Vorbereitens, dieses Werdens, mit
diesem leisen Schimmer auf tausend und tausend Ge-
sichtern, diesem Schimmer einer Freude, die anderu
gilt! Und der Ernst sehlt diesen Wochen nicht, denn
doppclt düster wirken neben dem Licht die Schatten;
bei jedem Gange durch die Straßen sehen wir sie
dunkeln über denen, die leiden, damit wir uns freuen.
Gerade das heiligt diese Zeit erst recht, in der das
Licht der Sonne zu ermüden und die Leuchte des
Herzens zu erstarken scheint. Weihnachten ist nicht
nur der Liebe geweiht, sonderu auch der Einkehr, es
macht zu ernsten Betrachtungen geneigt, ivie kein Fest
sonst.

Als wir Knaben waren, da freilich sang mitten
zur Winterszeit in unserer Brust die Lerche, daß
ivirs zmischen allen Klagen der Welt Hindurchjubeln
hörten, wie einen Gruß aus dem Frühlingsblau.
Jhr wißt es ja, sang sie, das Gute siegt. Wir
wurden älter, und blieben wir sromm, so nickten wir
dem immer noch zu: ja, kleine Priesterin, es siegt
- aber so ganz gewiß doch erst droben. Hier drunten
wenigstens nicht überall — das war ja gewiß, es

. gibt Gebiete im Menschenbereich, wo es immer
siegr, und das sind seine höchsten und schönsten:
Wissenschaft und Kunst. Ja, auch die uicht gott-
gläubig geblieben sind von uns, daran glauben sie
alle: das größere Denken, das größere Schaffen,
mit einem Worte: das Starke, es ist auf die Dauer
doch stärker, als all die verbundenen Schwächen, die
es anfangs niederhalten mögen. Wirklich — glauben
sie daran noch alle? Dürfen wir alle noch daran
glauben? Jst es wahr , daß das Talent sich Bahn
bricht? Oder haben wir auch hier eine jener alt
gewordenen Wahrheiten vor uns, die zur allgemeinen
Anerkennung gekommen sind, erst als sie keine mehr
waren? Was sich dem neuen eigenpersönlichen
Schaffen, der wahrhaft lebendigen und großen Kunst
von j e in den Weg gestellt hat, als Macht der Ge-
wohnheit und der Mode, als Unverständnis, Miß-
gunst und Neid, gewiß, das waren im Vergleich rnit
^ ihr nur Schwächen, die schließlich versagten. Unser
Jahrhundert aber hat einen Feind großgezogen, gegen
den jene alten an Macht nur bösartige Kinder siud,
einen Feind, dessen Gefährlichkeit dadurch ins Uner-
rnessene wächst, daß er die Tarnkappe hnt, die ihn
unsichtbar macht. Denn auf den Gebieten der Kunst
und Wissenschaft wühlt und wütet der moderne Kapi-
talismus nicht minder, als auf dern wirtschaftlichen,
aber hier wie dort zwingt er seine Sklaven ihn zu
verheimlichen oder gar zu preisen, weil er ihrem

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