Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

DOI Heft:
Heft 20
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Bilderbesehen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0317

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lwettes Aulwett 1897.

20. Dekt.


Derausgeber:

zferdinand Nvenarius.

Bezugsxreis:
vierteljährlich 2pe Mark.
Anzeigeni 3gesp. Nonp.-Zeile40ssf.

10. Zgbrg.

k)om Wilderbeseben

er nicht zu den ganz zahlungsfähigen
Damen und Herren gehört, die alle
Rätsel wie durch eine Offenbarung lösen,
d. h. ohne erst drüber nachzudenken, und nicht zu
den andern, die in irgend einer Weise zu sogenannten
„Fachleuten" geworden sind, — dem kann vor der
Mannigsaltigkeit einer modernen Bilderausstellung
wohl bange werden. Ja, jedem nicht blasierten
Kunstbesucher gehts immer wieder einmal so, denn jede
neue Kunstausstellung bringt auch ihm doch wenigstens
einige neue Erscheinungen, vor denen er zunächst nicht
aus noch ein weiß. Da ist ein Bild ganz Hell, dort
eines ganz dunkel, hier eines nur skizzenhast, dort
eines peinlichst durchgeführt, hier eines so, dort ein dem
Gegenstand nach ganz ähnliches doch ganz verschieden
von ihm in der Farbe — und alle sollen sie doch
etwas taugen? Können denn Menschengesichter über-
haupt so verschieden sein, wie diese beiden hier? Zwei
Birken s o verschieden, wie diese der Form nach noch
dazu beinahe gleichen? Und hier ist gar auf dem
Bilde rechts und dem links die gleiche Weide mit
dem gleichen Stück Bach in der gleichen Beleuchtung
von zwei Malern ganz verschieden gemalt — wer
von ihnen hat nun richtig gemalt?

Es gibt eine Zufallsgabe, die auf den Weg aus
diesem Labyrinthe weist, eine ganz äußerliche Zusalls-

*) Nach einem Vortrag, gehalten vom Verfasser am
-N Juli in der internationalcn Kunstausstellung in Dresden.

gabe, die ziemlich viele Menschen mit in die Welt
bekommen hoben: verschiedene Augen. Bei mir
z. B- ist der Unterschied zwischen beiden Augen so
groß, daß das eine kurzsichtig und das andere sern-
sichtig ist. Seh ich nun eine Landschast nur mit
einem Auge an, so ergeben sich mir natürlich zwei
ganz verschiedene Landschaftsbilder, je nachdem. Seh
ich durchs fernsichtige Auge allein, so ist alles klar,
deutlich bis ins kleine, aber gerade, weil ich alles
schars sehe, ist das Bild an einigen Stellen ein un-
ruhiges Durcheinander, aus dem sich das Einzelne
nicht recht abhebt. Durch das kurzsichtige Auge
gesehen, gliedert sich die Landschaft jedenfalls weit
mehr in zusammensassende Formenmassen, in welchen
das einzelne verschwimmt, in große, einsache Flächen.
Ferner ist der Eindruck hinsichtlich des Lichts ver-
schieden: dem sernsichtigen Auge scheint die Natur
weit heller beleuchtet, als dem kurzsichtigen. Und
auch hinsichtlich der Farbe ist der Unterschied auf-
sällig genug — hier ist das kurzsichtige Auge im Vorteil:
durch das sernsichtige erscheinen die Farben kälter,
nüchterner, durch das kurzsichtige nicht nur mit mehr
Uebergängen, sozusagen besser vermittelt, sondern auch
weit wärmer, wenn Sie wollen: poetischer. Jch
müßte die Farben sür denselben Gegenstand ganz
anders mischen, je nachdem ich ihn nach dem Ein-
druck meines rechten oder linken Auges malen wollte.
Denken Sie nun: ein kurzsichtiger Mann beurteile

über

DiHlimg. Zlmitcr. Msik uiii» Wknilk Kimstk.


Deutsch sein heißt, eine Sache
um ibrer selbst ivillen thun.

Richard wagner.

30?
 
Annotationen