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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 23
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Spitteler, Carl: Von französischer Dramaturgie
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0368

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-H>

find „ckrames^ die sämtlichen Trauerspiele Shake-
speres und so ziemlich das ganze Repertoire des
Auslandes. 'Der Titel „ärLme" ist also ursprünglich
ein verächtlicher und will ein dramatisches Werk mit
hohen Ansprüchen aber unedlem Charakter bezeichnen.
Auf historischem Wege jedoch hat sich die Meinung
dieses Titels allmählich verändert und schärfer ver-
deutlicht, obschon die negative Bedeutung desselben
immer durchklingt. Geben wir hier, anstatt uns mit
historischen Erläuterungen auszuhalten, das Ergebnis
der Veränderungen, mit anderen Worten den Sinn

des Titels „ckrame^ nach gegenwärtigem französischem
Sprachgebrauch.

Nnter ,,clrÄme" versteht gegenwärtig der Fran-
zose zweierlei: Erstens, das bürgerliche Trauer-
spiel und das Rührstück, wie es la Chaussee
und Diderot geschaffen und wie es ihre Nachsolger
bis aus den heutigen Tag ausgebildet haben.

Zweitens, das importierte historische
Trauerspiel undSchauspiel d er Aus länd er,
vorzüglich der Germanen, samt allen Spröß-
lingen und Ausartungen aus französischem Boden.

Ikarl Ppttteler.

N u lt d scl) u u.

DickNmg.

» Pcböne Literatur.

Das Lied der M e n s ch h e i t. Ein Epos in
2q. Dichtungen. Von Heinrich Hart. Band III. Mose.
(Großenhain und Leipzig, Baumert L Ronge.)

Der erste Eindruck, den Heinrich Harts „Lied der
Menschheit" überall bei der Kritik hervorbrachte, war das
Staunen über die Größe der gewählten Ausgabe. Vier-
undzwanzig Dichtungen, jede einen Band füllend, sich zu
einem gewaltigen Epos vereinend — unerhört, nie dage-
wesen! Nun, es ist aus epischem Gebiet allerdings schon
manches dagewesen: Firdusis Schahname besteht aus
60,000 Doppelversen, die zu schafsen der Dichter angeblich
35 Jahre gebrauchte, und füllt in den vollständigen Über-
setzungen 7 oder 8 Bände; Konrad von Würzburgs
trojanischer Krieg zühlt q.o,ooo Verse und ist dabei unvoll-
endet geblieben; an seinem Epos „ItLliL llberata äg. Ooti^
arbeitete der Akademiker Trissino 20 Jahre, und Jean
Chapelain brauchte über ein Vierteljahrhundert zu den
ersten zwölf Gesängen seiner „Jungfrau von Orleans"
— die letzten zwölf, die er auch noch fertig brachte, wur-
den dann nicht einmal gedruckt; wie lange Zeit endlich
Klopstock zur Vollendung feines „Messias" nötig hatte,
ift bekannt wie auch der Umfang des Werkes, der doch
wohl dem oier Hartscher Bände gleichkommt. Aber,
wird man mir jetzt fagen, wer denkt denn an die äußere
Größe, die innere Größe, die Kühnheit, das Epos der
Weltgeschichte schreiben, die gesamte Entwicklung der
Menschheit dichterifch darstellen zu wollen, das ists! Gewiß,
jedoch Firdusi gab auch bereits das, was für ihn Weltge-
fchichte war, und Dante ftellte Himmel und Erde, die ge-
famte Jdeenwelt eines ganzen Zeitalters in feinem Epos
dar. So wird Heinrich Harts Werk eben eine Vereinigung
von Firdusi und Dante, aber im vollen Lichte der Neuzeit
fein, heißt es da — und ich neige lächelnd mein Haupt
vor der Kritik, die Heinrich Harts Wollen riesenhaft
nennt und meint, daß fein Können hinter diefem nicht
zurückbleibe, die von feiner großartig konzipierten
Weltanschauung redet und ein Werk von ungeheurer Be-
deutung entstehen fieht.

Jn Wirklichkeit darf man bei dem „Lied der Mensch-
heit" wohl weder an Firdusi noch an Dante denken, wohl
aber an die stark akademische Neigung zur Zyklen-Dich-
tung, die unser Zahrhundert auszeichnet. Der moderne

Dichter möchte unersättlich die Welt nach der Breite und
der Tiefe ausschöpfen, alles in feinem Lichte zeigen;
so rundet Balzac seine Romane zur comeclle llumLiQe, so
gibt Zola die Geschichte des Kaiserreiches allseitig in
einem Dutzend von Romanen, fo stellt Freytag die deutsche
Geschichte in den „Ahnen" dar. Jch begreife recht wohl,
daß ein tiefes menfchliches Bedürfnis, daß eben das
eigene Werk kein Torso bleibe, Plan und Ziel habe, dieser
Zyklomanie zu Grunde liegt; es ist mir aber auch klar,
daß sie an das Klafsifizierungsftreben des gewöhnlichen
Gelehrten, an die Registrierungswut des befchränkten Be-
nmten oftmals nahe heranftreift, bei den kleineren Geistern
zumal, die nicht wissen, daß fchon eine Dichtung eine
ganze Welt fein, die wirkliche Welt allseitig spiegeln, ihre
Tiefe ausfchöpfen kann. Heinrich Hart kann man, wenn
man unfere lebenden Poeten ansieht, eben nicht zu den
kleinen Geistern rechnen, er wird fich auch energisch da-
gegen verwahren, Akademiker zu fein. Dennoch sehe ich
mich genötigt, Jdee und Plan feines Werkes unter den
Begriff des Akademismus zu bringen, wie ich in dem ge-
gebenen Programm auch Hegelei, in der Richtung und
der ganzen Art und Weise der Formulirung der Ge-
danken das junge Deutschland von Anno ^830 zu ent-
decken glaube, das ja die Weltgefchichte fozusagen im
Sack hatte — was mir, nebenbei bemerkt, auch Georg
Brandes' Zuftimmung zu dem Werk erklärlich macht. Es
ist möglich, daß ich Unrecht habe, daß Heinrich Harts
Epos, d. h. seine Jdee, fo gut aus den Tiefen des Unbe-
wußten aufgestiegen und gelebt ift wie Dantes „Göttliche
Komödie" oder Goethes „Fauft", aber zu glauben ist es
schwer, zumal wenn man Heinrich Harts Begleitprofa
zu seinen Dichtungen liest.

Doch es liegen jetzt drei Bände des Epos vor —
anstatt das Gewollte zu erörtern, soll man sich an das
Geleistete halten. Jch will denn den neueften Band
„Mose" ein wenig näher betrachten. Kein Zweifel, wir
haben es da mit einem durchaus poetischen Werke zu
thun; die jungdeutsche Abstraktion, die Schemen mit
Jdeen aufputzte, hat keinen Teil an der Dichtung, alles
ftrebt nach Geftaltung — wo etwas fchattenhaft bleibt,
versagt eben nur des Dichters Kraft. Die alte epische
Einfachheit und Klarheit, die das homerifche Epos und
das Nibelungenlied auszeichnet, darf man bei Heinrich
Hart nicht fuchen, er ift ein moderner Dichter, ein Natur-
fchilderer, ein fchwungvoller Rhetoriker, aber er weiß



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