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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1899)
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Dichtung und Kinderstube
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0230
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Die Ausbildung des Verstandes, des Denkens darf selbstverständ-
lich nicht im Mindesten darunter leiden. Aber sie braucht das auch
nicht, denn aus dem ansänglichen Wirrwarr oon Wirklichkeitsbildern und
echten sinnetäuschenden Jllusionen hebt das Ueben der Anschauung
die kindliche Seele zur Klarheit heraus. Und eben dieses Ueben der An-
schauung ist es ja, was wieder der Phantasie mit jeder neuen Beobach-
tung eine neue Vorstellung zur Verfügung schenkt, das Ueben der An-
schauung also ist eben das beste Ueben der Phantasie. Thorheit also,
zu wähnen, die Erziehung der Phantasie wirke dem klaren Denken
entgegen: hier regelt sich alles ganz schön selbst: wer gut beobachtet,
wird kein Schwarmgeist. Und gegen die Erziehung des Denkens
sind wir wahrlich nicht; unsre Leser wissen, wir hätten gern mehr
davon, denn wir vermeinen, man süttere in unsern Schulen die
Köpfe zu sehr mit Kenntnissen, und stärke zu wenig das Denken,
diese edle Kraft des geistigen Verdauens von all den zugesührten
guten Sachen. Aber das greist vor. Für jetzt genügt: man kann
sich der Wolken als müchtiger Riesengestalten ersreuen, ohne irgend-
wie zu bestreiten, daß sie Wasserdunst sind. Man kann als Erwachsener
die begrisfliche Sprache des Denkens sehr wohl ersassen und doch zugleich
die anschauliche des Dichtens. Man kann gescheit und phantasievoll
zugleich sein. Und: nur wenn man das ist, lebt man als ganzer
Mensch.

Schön, und wie kommt es nun, daß sich die Kraft der Phantasie
nicht weiter entwickelt, die doch im kleinen Kinde so üppig blüht. Wie
kommt es, daß sie allmählich das nüchtern abstrakte Denken zum Allein-
herrscher werden und damit bis aus fo feltene Ausnahmen das Verständnis
für die Ausdrucksmittel des Dichters verkümmern läßt? Wie unzählige
Freuden werden dem Erwachsenen, der aus diesem Kinde wird, hierdurch
genommen! Mehr: wie viele geistige Dinge, die nur der Künftler ver-
mitteln kann, werden ihm nunmehr ganz unbekannt bleiben sein Leben
lang, fo daß er trotz redlichften Bemühens in ganze Jnnenreiche feiner
Mitmenfchenfeelen nie wird blicken können! Muß das fo werden?
Bei richtiger Erziehung doch nur in den Ausnahmefällen völlig ein-
feitiger Anlage.

Jedoch: Wir haben heute allein von der Zeit vor der Schule
zu reden.

Da ift es von unüberschätzbarer Wichtigkeit, wie die Mutter mit
dem Kinde fpricht. Die gefunde natürliche Mutter spricht mit ihm
ganz von selbst „kindlich", d. h. in Anschauungen, die alles vertebendigen
— Alles. Das braucht es auch, denn fchon um die einfachsten Be-
griffe, wie „groß" und „klein" zu verstehen, muß ein Stück Erdenweg
dahinten liegen. Sprich vom großen und kleinen Stern, du redest dem-
selben Hänschen über den Kopf weg, das dir aufmerksam folgt, wenn
du von Papastern und Hänschenftern fprichft. Sage dem Büblein: der
Goliath war ein fürchterlich gewaltiger Niefe, fo fagst du ihm gar
nichts, fage ihm, er war so groß, daß er immer gleich eine Metze Aepfel
auf einmal fraß, das begreift's.

Man hat das Kind den geborenen Dramatiker genannt. Es fpielt
ja fogar mit dem Holzscheit Komödie, und mit welchem Feuer, mit dem
Holzscheit, den es eben erst aus der Küche geholt und in ein Zeitungs-
Runstwart
 
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