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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1899)
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Dichtung und Kinderstube
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0231

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blatt als Prinzenmantel gewickelt hat. Unser Junge wollte dem Mädel
aufhelfen, das anf der Zeichnung und feinenr Bilderbuch Hingepurzelt
lag. So hört das Kind auch die Märchen nicht nur an, und fo leben
sie nicht nur vor ihm auf, wie es fie hört, nein, es lebt fie m i t, jetzt
verwunschener Prinz, jetzt Köhler im Wald, jetzt Reineke und jetzt
Wichtelmännchen, alles einzeln und alles zugleich, juft wie der Schläfer
im Traume. Diefe Fähigkeit gilt's zu erhalten, aber fo, daß fie fpäter
nicht herrfche mehr, wie im Kinde noch, sondern nur zur Verfügung ftehe,
wenn fie gebraucht wird. Ließen wir fie wuchern, fchrankenlos über
Stock und Stein, das gäbe Unkraut. Erziehen wir fie also, indem
wir das Erzählen zwar immer anfchaulich geftalten, das heißt: in-
dem wir nie begrifflich berichten, sondern immer darstellen —> aber im
Anfchluß an Beobachtungen. Mag das Kind im Frosch den Frofch-
könig fehen, es foll fich doch klar werden darüber, wie der grüne Herr
ausfieht. Die Bäume, darin feine Elfen haufen, — lehre ihm früh
unterfcheiden, ob es Weiden oder Eichen sind. Jch halte für unsere
Kinder nicht viel von der Märchenpracht des Orients. Unsere heimifchen
Märchen reichen aus, und fie kann man in jedem Winkelchen mit Be-
obachtungen beleben und verinnerlichen und fozufagen einheimen gerade
in die Umwelt des Kindes, mit dem man fpricht. Beseelt werden muß
aber auch jeder Satz, kein einziger darf leer vorüberfchallen. Findest
Lu fpäter, wenn dein Kind erft liest, bei ihm Freude nicht allein daran,
„gespannt" von Blatt zu Blatt zu jagen, fondern auch daran, wenige
Sätze immer wieder zu lesen, sie gleichfam mit Behagen durchzukoften
von Wort zu Wort, fo ift ihm feine Empfänglichkeit für Poesie noch nicht
verdorben. Bleibt es fo, fo wird's fpäter einmal „Dichtung und Wahr-
heit" und den „Grünen Heinrich" verftehen können, ist's ein Kapiteljäger,
reist es Familienblatt- und Leihbibliothekwärts.

Ach, das erinnert uns an einen wahren Frevel, der gutgläubig an
Kinderfeelen geübt wird. Wir meinen an die Erziehung der eigenen Sprache
des Kindes. Am besten, fie finge noch gar nicht an. Aber fie fängt schon vor
der Schule an, und leider geht sie bei vielen dahin, das Kind „gebildet"
fprechen zu lehren. Da foll es je eher je lieber von der „Eisenbahn"
fprechen, statt von der Tschisch-tschifch, vom „Hunde" ftatt vom „Wau-
wau" u. s. w., und wenn das Kind gar in felbstgemachten Ausdrücken
fpricht, fo hält man's für dümmer, als das gleichalterige, das schon
fchriftdeutfch redet. Ganz genau umgekehrt fteht es: das Kind, das fich
Ausdrücke felber fchafft, ist in dieser Hinsicht unzweifelhaft begabter,
als jenes, das nur nachplappert, denn jene fprachschöpferische Kraft zeugt
von thätiger Phantasie. Laffen wir alfo die Jungen im Nest recht lange
fo zwitfchern, wie ihnen die Schnäbel gewachfen find — das wird sie
dereinst im Kampfe mit dem Papierdeutsch ftärken. Die Sprache ift ein
Verftändigungsmittel zwischen vielen, gewiß, da geht es nicht ohne
nüchtern-praktisches Uebereinkommen, aber wir brauchen die Sprach-
münzen nicht pädagogisch zu polieren, ihre Prägebilder greifen fich völlig
zur Genüge von felber ab. Uebrigens kann auch schon die Zeit vor der
Schule dazu thun, daß diefe Prägebildec zunächst mal angefehen
werden. Schon im frühen Spiel kann ein bischen allerkindlichste Ety-
mologie getrieben werden, auf daß man den Worten den wundervoll
lebendigen Wert noch ein Stück weit ins Dafein hmein erhalte, den fie

2. Dezemberheft ^899
 
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