Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1901)
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0313
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
das Buch hinüber in die Romane von
den drei Städten.

Hier erleben wir die furchtbaren
Zusammenbrüche der größten Stützen
der alten, morsch gewordenen Kultur-
welt: des Wunderglaubens (Lourdes),
der katholischen Hierarchie (Rome),
der christlichen Barmherzigkeit (Paris).
Triumphierend steigt die Wissenschaft
aus den Trümmern empor; durch
unablässiges Streben nach Wahrheit
und Gerechtigkeit wird sie in lang-
samer Entwicklung die Menschheit er-
neuen. Wir sehen den Optimisten
erwachen, und ihn zunächst an die
Wissenschaft, sodann an die Liebe und
durch beide an das gesunde, starke,
sich ewig verjüngende Leben und mit
ihm an die Vervollkommnungsfähig-
keit der Menschen glauben. Schon
wird hier der krastoolle Epiker, der
fesselnde Schilderer vom rheoretisieren-
den und moralisierenden Prediger zu-
rückgedrängt, schon ist die künstlerische
Weitschweifigkeit stark im Zunehmen,
aber noch findet Zola seine dichterische
Kraft wieder im Verherrlichen der
reichen Lebens- und Zukunftsquellen,
die unter dem haltlos gewordenen
Gebäude der Gesellschaft hervor-
brechen. Wir erinnern an die hoff-
nungsreiche Stelle in »Paris": »die
wahre Jugend, die man nicht kennt,
sitzt in den Schulen, Laboratorien und
Bibliotheken. Diese Jugend arbeitet,
sie wird den Morgen herbeiführen. .
Diese Jünglinge gehen mit dem Jahr-
hundert. Sie haben keine einzige sei-
nertzoffnungen vcrworfen und schreiten,
cntschlossen, die Arbeit ihrer Vorläufer
sortzusetzen, immer mehr dem Lichte,
immer mehr der Freiheit entgegen."

Wie aber erneut diese Jugend die
Welt? Die ,vier Eoangelien"' sollten
es sagen.

„Fruchtbarkeit" brachte die erste
Enttäuschung. War das nicht eine
Art Moral - Traktat, gegen die
Entvölkerung Frankreichs gerichtet,
voll ermüdender Aneinanderreihung

von Einzelheiten, aus denen gleich wie
in schulmeisterlichen Erzählungen jedes-
mal eine Moral abgeleitet wurde?
Jmmerhin, welch gewaltige Liebe zum
Leben, zur ewig schöpferischen Natur
sprach auch aus diesem Buche — der das
Große umfassende Zola, auch hier war
er noch trotz allem. „Arbeit" aber
entbehrt dieser Größe. Es setzt kräftig
ein, die Schilderung der Fourierschen
Utopie jedoch enthält geradezu kind-
liche Naivetäten- Welch eine Aufgabe
wäre es für den Schöpfer des Ex-
perimentalromans gewesen, mit den
menschlichen Leidenschaften im Milieu
des Fourierschen Zukunftstaats zu
„experimentieren"! Statt dessen finden
wir alle gefährlichen Leidenschaften
bereits innerhalb kaum zweier Ge-
nerationen in menschheitbeglückenden
Tugenden aufgegangen, das Paradies
auf Erden ist da. Was für ein Para-
diesi Ein durch die Wunder der
Elektrizität modernisiertes Schlaraffen-
land, in dem die Arbeit nur noch ein
bequemes, abwechslungsreiches Ver-
gnügen ist. Von einer Schilderung der
allmählich läuternden Kraft der aus
Schmach und Frohndienst befreiten
Arbeit im Einzelwesen wie in der Ge-
samtheit — nichts. Freilich, einerfeineren
Psychologie war Zola von jeher ab-
hold, bisweilen pslegte er durch die
höchsten und heißesten Fragen der
Menschheit mitSiebenmeilenstiefeln zu
schreiten und ihre Lösung unvermit-
telt durch die Schlagworte: Liebe
Wahrheit, Gerechtigkeit zu ersetzen.
Was aber früher nur als kleine
Schwäche gelegentlich zu erkennen war,
das beherrscht jetzt wie eine schwere
Krankheit das ganze Werk.

Unwillkürlich blicken wir nach dem
.Germinal" zurück, jenem gewaltigen
Epos des Arbeiterelends. Wollte Zola
dem erschütternden Nachtstück den
leuchtenden Tag entgegensetzen, so war
das groß gedacht, und groß gedacht
war es auch, der Mahende, dem durch
! JahrhundertemißhandeltenProletariat
i.. Iuliheft lyo,
 
Annotationen