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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 12 (2. Märzheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0839
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sich eutdecken. Nun aber, da ich Sie
an dis nächste Wirklichkeit hinweise,
welche fast unwerth schiene, oon Jhnen
nachgebildet zu werden, so sag' ich
noch: daß der Geist des Wirk-
lichen eigentlich das wahre
Zdeelle ist. Das unmittelbar sicht-
lich Sinnliche dürfen wir nicht ver-
schniähn, sonstfahren wir ohneBallast."

(Brief anLeopoldine von Grusdorfin
Prag, verössentlicht im neuesten Bande
der Schriften der Goethe-Gesellschaft.)

G „O'art pour l'arti8te."

Eine Anzahl von Künstlern aller
Art erachtet es nicht mehr zureichend,
durch die Formel 1'art pour 1'art das
auszusprechen, was man früher bei
diesem Satze verstand: daß das Kunst-
werk Grund und Ziel seines Daseins
in sich selbst habe. Man verschärft die
Formel zu der Forderung 1'art pour
l'artiste: die Kunst sei für den Künst-
ler da, sie stehe zu keinen anderen
Lebensbetätigungen und Lebensinter-
essen in notwendiger Beziehung, der
Schöpfer selbst und höchstens sein Kol-
lege vom selben Fach sei der einzig be-
fähigte und darum der einzig berufene
Beurteiler des Kunstwerks. Uns scheint
diese Formel nicht nur deshalb falsch,
weil der Künstler als Nachkomme seiner
Vorsahren, als Mensch von Fleisch und
Blut, ausgestattet mitHunger und Liebc,
demBedürfnis nach Erkenntnis derUm-
welt und mit geselligem Verkehr ohne
weiteres zur Erhaltung seines Lebens sich
in natürliche und vornehmlich in staat-
liche,gesellschaftliche,wirtschastlicheOrd-
nungen einzufügen gezwungen ist, und
weil die ihmso aufgenötigten Lebenser-
sahrungen jegliche seiner planlosen oder
planmäßigen Aeußerungen notwendig
mitbestimmen. Sondern sie ist es auch
deshalb, weil jcdes Kunstwerk eine
Anschauung von Welt und Leben nicht
nur in sich trägt, sondern auch ver-
mittelt und so mit oder ohne Willen
des Schöpfers Wirkungen auf die Welt-
anschauung und Lebensgestaltung der
Mitmenschen tatsächlich ausübt. Dazu

kommt, daß Wert und Geltung eines
Kunstwerks keineswegs von spezifisch
ästhetischen Gesetzen allein abhüngen,
sondern vielmehr von dem Charakcer
des Dargestellten und der geäußerten
Weltauffassung sowie der Tragweite
des Motivs in der Darstellung oder
Gestaltung, daß also logische, meta-
physische, wissenschastliche,technische und
ethische Normen wesentlich mitspielen;
eben diese Normen aber sinü gemein-
sam allen Menschen von gleicher Volks-
gemeinschaft und sonst verwandten Da-
seins- und Entwicklungsbedingungen.
Kunstleistungen z. B. auf ihren mora-
lischen Wert hin zu betrachten, ist des-
halb keineswegs schon an und für sich
versehlt, wie namentlich in den letzten
Jahren so vielfach zu hören war; nur
welcher Art die Moral ist, die man
zum Richter macht, das ist ausschlag-
gebend. Schillers Mahnung an dic
Künstler, der Menschheit Würde ist in
eure Hand gegeben, ist weit entfernt,
die Menschheit auf die eiue Seite und
die Künstler als die Vertreter ihrer
Würde auf die andere Seite in einen
Gegensatz zueinanderbringenzuwollen,
wie die Erfinder ües ^l'art pour 1e8
artisteZ« offenbar im Auge haben —
auch Schiller will den Künstler nicht
in die Wolken und Nebel erheben und
dem pulsierenden irdischen Leben ent-
fremden. Man betrachte die als groß
anerkannten Künstler aller Zeiten bis
auf unsere Tage üaraushin, ob es nicht
gerade das Ueberragenüe ihrer Ein-
sicht in üieLebensaufgabenund Lebens-
ideale ist, was ihren Taten die Eigen-
art und die Größe verleiht. Man darf
wohl sogar behaupten, daß die Größe
der künstlerischen Tat in geradem Ver-
hältnis steht zu der Kraft, mit der eine
Auffassung des inneren Zusammen-
hanges der Welt- und Lebenserschei-
nungen zum vollendeten Ausdruck ge-
bracht wird. Der Hinweis Tolstojs
aus „Religion" als die bewährte und
einzige Voraussetzung wahren Kunst-
schaffens erscheint deshalb dann berech-

2. Märzheft 1903

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