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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,4.1908

DOI Heft:
Heft 24 (Zweites Septemberheft 1908)
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Gleichen-Rußwurm, Alexander von: Goethes Mutter: (17. Febr. 1731-13. Sept. 1808)
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https://doi.org/10.11588/diglit.7707#0404

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Die literarische Iugend, die sich um den Verfasser des Werthers
scharte, zeigte sich zum Schrecken des Vaters und zur Freude der
Mutter oft im gastfreien Haus. Frau Rat freute sich, daß die jungen
Leute sich dem Sohne gegenüber „wie die Lakaien" fühlten, und
schrieb ihm nach Rom: „Wenn du herkommst, so müssen diese
Menschenkinder alle eingeladcund herrlich traktiert werden —
Wildpret, Vraten, Geflügel wie Sand am Meer — es soll eben
pompos hergehen."

Als sie diesen Brief abschickte, war Frau Rat seit einigen Iahren
Witwe. Schon im Iahre s?79 hatte Goethe bei einem kurzen Besuch
im elterlichen tzaus den Vater „stiller" gefunden, während die Mutter
in alter Kraft und Liebe wirkte. Drei Iahre später schrieb Merk,
der treue Freund des Hauses, in seiner allzu offenen, sarkastischen
Art: „Goethes Vater ist ja nun abgestrichen und die Mutter kann
endlich Luft schöpfen." Das Haus am Hirschgraben wurde verkauft
und eine neue helle Wohnung bezogen. Aus dieser veräuderten
Rmgebung heraus hat sich das Bild erhalten, in dem „Frau Aja
Wohlgemut" bei Enkeln und Urenkeln lebendig blieb. Das teil-
nehmend freundliche Gesicht einer alternden Dame, deren behäbige
Behaglichkeit ansteckend wirkt, lächelt uns zu, von einer großen ge-
bietenden Haube umrahmt. Und es scheint, als wolle der Mund
noch all denen herzlich danken, die dem großen Sohn die schuldige
Ehrfurcht erweisen.

Wir alle, die wir uns einbilden, mit den Klassikern auf ver-
trautem Fuß zu stehen, nennen die würdige Matrone „Frau Aja",
meistens ohne zu wissen, wie sie zu diesem Zärtlichkeitsnamen ge-
kommen ist. Eine gelehrte Anmerkung im ersten Band der Schriften
der Goethegesellschaft besagt: „Es war ein Scherzname, den Goethes
Freunde ihr beigelegt und den sie namentlich in der Korrespondenz
mit der Herzogin Amalia liebte. Der Name Aja ist unstreitig der
Historie von den vier Haimonskindern entnommen." Mag für einen
Professor, der über Familien- und Freundschaftsbriefe gerät, der
Vergleich von Goethes Mutter mit der niederländischen Sagengestalt
selbstverständlich erscheinen, mir leuchtet die Erklärung besser ein,
daß „Aja" aus der Kinderstube des kleinen Goethe stammt und von
dem zärtlichen Lallen des Knaben ein anerkanntes Kosewort wurde.
Später als der Knabe das Volksbuch von den Haimonskindern las,
mag vielleicht ein scherzhafter Vergleich der Mutter mit Karls des
Großen Schwester hinzugetreten sein. Die Mutter wird sich dann
dieses Namens bei Anna Amalias Besuch gerühmt habeu, und die
froh gestimmte Fürstin machte von dem Recht der neuen Freund-
schaft Gebrauch, ihn auch zu verwenden. So hat es Großherzog
Karl Alexander und so hat es der Enkel Walter von Goethe erzählt.
Aber nicht nur der Sohn und Anna Amalia nannten die imposante
Frau Rat mit ihrem Scherznamen, auch die fröhliche Schar junger
Mädchen, die sie umschwärmten, sagten, daß sie zu „Mutter Aja"
gingen, wenn sie das Tuskulum großer und schöner Erinnerungen
besuchten.

Nur eine leise Trauer senkte sich heimlich und verstohlen auf
die Lider der alternden Frau. Der geliebte, bewunderte Sohn wollte

^ 2. Septemberheft lIM Zzz ^
 
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