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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Laiengedanken vom Richtertum
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0401
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„Möglich, daß man dem Kerl in diesem einen Falle mit Sicherheit
nichts nachweisen kann, aber soundso oft hat er gewiß ansgefressen,
was ihm durchgegangen ist!" Also legt man zur Straftat den Wider-
willen gegen den Mann auf die Wage. „Möglich, daß jene Fran
für diesen Diebstahl keine drei Monate verdiente, aber wie abstoßend
ist ihr ganzes Gebaren!" Also gibt man ihr die drei Monate gegen
des Gesetzes Sinn. Der Angeklagte dort tritt frech auf, man bezahlt
ihm die Frechheit mit drei Wochen Zulage für seinen Betrug. Sein
Spießgesell ist bescheiden, er „stimmt das Gericht zur Milde". „Es
setzt sich doch auch aus Menschen zusammen." Freilich, und nicht nur,
daß sie alle dabei besten Glaubens sein können, zugunsten einer
höheren Gerechtigkeit die starre anzupassen. Nein, sie sollen ja auch
abwandeln. Sie sollen das so sehr, daß man mit gutem Grunde ge-
sagt hat, schlechte Gesetze in der Hand guter Richter seien besser als
gute Gesetze bei schlechten Richtern. Aber das ist der Rnterschied:
das Mehr oder Minder der Strafe muß abgewogen werden allein
aus dem, was den Angeklagten bewegt und bestimmt hat, aus seiner
Persönlichkeit, seiner Umwelt, seinen Verhältnissen. Die des
Richters haben nicht dreinzusprechen. Nnn aber scheint's: gerade
die sprechen bei uns jetzt mehr und mehr drein. Man läßt nicht
nur die Verhältnisse mitreden, die den Angeklagten und seine
Tat, sondern auch die, die den Richter und seine Ansichten ge-
bildet haben. Man treibt mit der Rechtsprechnng eine Art von
Politik, man versucht mit ihr, dem Siege der eignen Äberzeugungen
im Weltlauf' für sein Teil nachzuhelfen. Da aber keiner die Wahr-
heit „hat", da wir in allen Fragen der Sittlichkeit, der Wissenschast,
des sozialen Lebens, der Politik doch nur suchen nach ihr, da wir
alle doch nur Partei sind und keiner Äbermensch und Menschentum-
überschauer — so ist die Folge davon in irgendeiner Beziehung
Parteijustiz.

Ganz ausscheiden freilich läßt sich dieses unsachliche Element wohl
nie. Aber die Erziehung durch andre und durch sich selbst kann
sicher sehr viel dazu tun, es im Zügel zu halten. Es ist ja lange
Iahrzehnte am Zügel gehalten worden. Ich glaube, ganz besonders
verderblich hat der aufwachsende Gegensatz zwischen Sozialdemokratie
und Bürgertum hier gewirkt. Das Gefühl, zur Erhaltung der Ge-
sellschaft gegen den Nmsturz helfen zü müssen, hat wohl über die
Ausnahmegesetze hinaus ganzen Kreisen von Wohlmeinenden den
guten Glauben gestärkt, gegenüber den Roten müsse man auch in
Rechtssachen „strenger" sein. Erinnern wir uns doch daran, wie lange
wir Angehörige dieser Partei ohne weiteres auch als gesellschaftlich,
auch als ethisch minderwertig betrachtet haben, ein Zustand, über den
politisch reifere Völker schon seit Iahrzehnten hinaus sind. Genau
so, wie das Nmgekehrte geschah: stellten die Sozialdemokraten unsre
Richter, hätten wir sicherlich auch eine Klassenjustiz. Mit welchem
Satze dann freilich zugestanden ist, was sich nicht leugnen läßt: daß
wir jetzt eine haben. Nur häufig, nicht überall, denn jeder Richter,
der's ernst nimmt, ringt danach, von den Einwirkungen seiner per-
sönlichen Gefühle aufs Urteilen loszukommen. Immerhin: mehr als
früher, weil die Furcht vor der Sozialdemokratie und deshalb das

Kunstwart XXII, jS
 
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