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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Laiengedanken vom Richtertum
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0402
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Politrkmachen gegen sie ein stärkerer Faktor im Bewußtsein jener
Gesellschaftskreise ist, welche dem Staate die Richter stellen.

Mir freilich scheint, daß wir überhaupt an einer Verminderung
des Rechts-, des Gerechtigkeitsgefühls kranken. Man spottet über
die Agrarier, die tiefsittliche Gründe gegen die Lrbschaftssteuer auf--
legen — aber wo ist eine Interessentengruppe im Reich, die einer
Steuer zustimmt, die vorzugsweise sie selber bezahlen soll, und deren
Angehörige nicht, soundso viel sicher aus innerer Äberzeugung, Gründe
höherer Art gegen sie anführen? Fragen wir uns auch unter zwei
Augen selbst, ob wir wirklich glauben, an Delbrücks Behauptung
vom Einschätzungsschwindel sei nichts Wahres. Ein ganz erstaun-
liches Zeugnis vom Abnehmen des Gefühls für Gerechtigkeit bietet,
um schnell Vergängliches zu nennen, die neue Fahrkartensteuer-Vor-
lage. Ieder weiß, daß ein Passagier erster Klasse dem Staate oft
weniger bezahlt, als er ihm kostet, weshalb man ja die erste Klasse
auf einigen Bahnen ganz abschaffen wollte. Und da bringt man
den Vorschlag zuweg, ihn zu entlasten und die Reisenden dritter und
vierter Klasse mehr zu belasten. Und es finden sich ganze Parteien,
denen das zulässig scheint.

Ich wiederhole, das ist ein kleines Beispiel nur vom Tage. Äber
ein halbes Iahrhundert alt ist dagegen das stille Außerachtlassen
gewisser Bestimmungen der Verfassung, also der Grundsatzung unsres
Staats. „Standesvorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Amter
sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen,
für alle dazu Befähigten gleich zugänglich.« Ich brauche unsre Leser
nicht an mehr solche Sätze zu erinnern, die über unsern Verhält-
nissen wie feierliche Ironien klingen. Wären sie nicht da, es lebte
sich vielleicht leichter. Daß die regierenden Gewalten sie selbst pro-
klamiert haben und sie nun so vielfach umgehen, dabei liegt die
Gefahr.

Es ist immer wieder das bis zum Furchtbaren Tragische unsres
öffentlichen Lebens: daß wir immer wieder auch das nach Partei-
sätzen, nach Parteizweckmäßigkeiten messen und je nachdem mit Maucrn
stützen oder mit Minen untergraben, was das allgemeine Fundament
des nationalen Lebens uird also fester sein müßte als Fels. „Aber
es geht doch nicht ohne Parteien." Es geht ohne sie so wenig
wie das Kriegführen ohne Heere, denn sie sind die Formen der
öffentlichen Kräfte. Aber wenn es selbst im Kriege zwischen feind-
lichen Völkern Gesetze über den Kämpfen gibt, wieviel mehr brauchen
wir sie bei den Kämpfen innerhalb eines Volkes, dessen Parteien
auf ein ergänzendes Zusammenarbeiten angewiesen sind, soll der
Bürgerkrieg nicht die nationalen Kräfte untereinander verwüsten.
Leben wir etwa da und dort tatsächlich schon im latenten Bürger-
kriegszustande? Iedenfalls wirkt jede von der Macht gestützte Ent-
scheidung, die noch so guten Glaubens „politisch" gefällt wird, will
sagen von Meinungen, denen bei andern andre Meinungen ent-
gegenstehn, auf die Anhänger dieser andern Meinung, als drängte
man sie vonr gemeinsamen Rechtsboden weg. Auf der einen Seite
werden Kriecher und Streber gezüchtet, auf die kein Verlaß ist, auf
der andern Unversöhnliche, welche die heutige Gesellschaft als solche

2. Iuniheft 1909 S25
 
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