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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0205
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Allgemeineres

ich brachte meine ganze Entrüstung, Scham und Wut in einer einzigen,
riesigen Ohrfeige prägnant zum Ausdruck. Gleich darauf begann die
Lektion, und der Lehrer bemerkte das Wimmern und die rotgeschwollene
Backe meines ehemaligen Freundes, welcher obendrein scin Liebling war.

„War hat dich so zugerichtet?"

„Der Camenzind."

„Lamcnzind, vortreten! Ist das wahr?"

„Iawohl."

„Warum hast du ihn geschlagen?"

Keine Antwort.

„Hast du keinen Grund dazu gehabt?"

„Nein."

Also wurde ich energisch bestraft und schwelgte stoisch in der Wonne
des unschuldig Gemartcrten. Da ich aber kein Stoiker, noch Heiliger,
sondern ein Schulbub war, streckte ich nach erlittener Strafe meincm
Feind die Zunge heraus, so lang sie war.

Entseht fuhr der Lehrer auf mich los.

„Schämst du dich nicht? Was soll das heißcn?"

„Das soll heißen, daß der dort ein gemciner Kerl ist, und daß ich
ihn verachte. Und ein Feigling ist er auch noch!"

So endete meine Freundschaft mit dem Mimen.

Rundschau

Kindes-Tagebücher

(Hommt die Zeit, die alte treue

-)>Muhme,

Gießt die Knospen, und sie werden
Blume,

Doch von jeder Art besorglich ein

Knöspchcn pflnckt sie, tut's ins Buch
hinein.

Treibt sie weiter ihre Gärtnerzucht,

Gießt die Blumen, und sie treiben
Frucht,

Doch von jeder Art behutsam ein

Blümchen pflückt sie, tut's ins Buch
hinein.

Geht der Sommer, kommt der
Herbst heran,

Kommt der kühle, stille Winter
dann,

Nimmt sie aus dem Schrein ihr
Buch zur Hand,

Blatt anf Blatt wird sorgsam um-
gewandt.

Sieh, die trocknen Knospcn blühen
auf!

Aus der Blume schwillt die Frucht
herauf!

Und noch einmal im Vorübcrziehn
Siehst dn einen ganzcn Frühling

blühn.

Diese paar Verse, die ich einmal
in ein Kindes-Tagebuch schrieb,
drucke ich hier nicht etwa als
„Poesie" ab, sondern nur, wcil
sie kurz raten, was ich wieder-
holen möchte: führt Kindcs-Tage-
bücher! In unscrm Lciter und
in einem Rundschaubeitrage geben
kleine Dichter nnd Dichterinnen
eigne echte Geschenkchen ihrer Kunst
zum besten, richtigcr: Geschenke aus
der Zeit, da wir Menschen alle
noch Künstler sind. In den Losen
Blättcrn sprechen dann Erwachsene,
die Künstler geblieben sind, von dcr
Kinderzcit. And wir wissen: allc,
die Kinder haben, genießen irgend-
wclche Zcugnisse ihrer Phantasie
und ihres Seins so herzlich, wie
man nur echte Kunstwerke genießcn
kann, die zur Naturschönhcit füh-
ren, oder wie der Naturschönheit,
wie des Lebcns in voller Anmittel-


Kunstwart XXII, l5
 
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