Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1909)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0438
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
weil er nichts ist als eiserner Zweckgedanke, gerade dcshalb ist er das
edelste Wahrzeichen unserer Lpoche geworden. Ie länger cr stcht, desto
höher wird er in der Wertung steigen. Allmählich wird man seine
Sprossen und Stufen als rührend in ihrer Schlichtheit empfinden, aber
gerade dann, wenn man so weit sein wird, wird man die glücklich preisen,
die die ersten, reinsten, noch jugendhaften Versuche des neuen Stils er--
leben durften. Wenn ich hente in den Münchner Bahnhof einfahre,
genieße ich etwas von dieser Nührung. Da ist die neue Konstrnktion in
ihrem allerersten Stammcln. Wer sie zu sehen versteht, vcrlrert den
Sinn für die wechselnden Moden in der Galvanisierung altcr Motive.

Der Blick auf die nackten Berge der Wüste und der Blick in den
Eiffelturm, das sind die zwei schönsten Blicke, die mir ein Leben voll von
allerlei Wanderungen bot. Im Grunde ist es eine Geschmacksrichtnng,
die sich vor beiden ästhetischen Höhepunkten äußert, die Richtnng des
Zeitaltcrs des Weltverkehrs und der Hochöfen.

Rundschau

Die Kunst der Entnennung

(7>»ie Namengebung hat hundert
^gute Iwccke und bringt tausend
Vorteile, aber diese Vortcile liegen
sämtlich im Gebiete des Verstandes.
Der Name orientiert, trennt, sichtet,
ordnet, cr unterstützt die Tätigkeit
des Urteils, er schärft die Kraft
der Sinne, denn er bringt die
Erfahrnng mit sich, die von dcn
hente von mir gesehenen Dingen
schon tausend frühere abgezogen
und auch zu meinem Gebrauche
aufgehoben hat. Schon das bloße
Sehen des Auges, ich meine
das deutlichc Sehcn dcs Auges,
verlangt daher Namenkenntnis.
Was einer nicht namentlich zu
bezeichnen weiß, sieht er nicht
ebenso scharf umrissen, wie der
Namenskundige; eine minder be-
stimmte Gesamtvorstellung genügt
ihm, und sobald der gesehene
Gegenstand entschwunden, mithin
die Möglichkeit der Kontrolle ver--
zogen ist, verwischt ihm die Phan-
tasie Gestalt und Eigenschasten, so
daß er über das Gesehene märchen-
hafte Dinge berichtet. Hierfür
einige Beispiele: Wenn ein weib-
liches Wesen einen sitzenden Schmet-

terling gesehen und beobachtet hat,
meinetwegen noch so lange, und
du fragst sie nachher, wie der
Schmetterling ausgesehen habe, so
schildert sie ihn in bestem Glauben
nrit den abentcuerlichsten, unmög-
llchsten Gestalten und Farben. Des-
halb, weil sie die verschiedenen
Schmetterlinge nicht kennt, sie
uicht zu benennen, nicht zu unter-
scheiden, folglich nicht deutlich zu
sehen vermag. Ein andres Bei-
spiel: Wenn wir auf einem Aus-
sichtsberge stehen, so verlangt unser
Bedürfnis, wenn wir scharf schen
wollen, nach einem Kundigen, der
uns nenne, was wir sehen. Nicht
etwa bloß, um nachher sagen zu
köunen, wir haben das und das
gesehen, nein, sondcrn um der
Verwirrung, der Unruhe, dcr Ver-
schwommcnheit zu entgehen, welche
das ratlos blickende Auge heim-
suchen. Der Finger des Kundigen
leitet dann den Blick auf eine be-
stimmte Gegend, die Nennung der
Dinge ermöglicht uns, daß wir sie
jetzt deutlich, das heißt begrenzt und
von der Nachbarschaft unterschieden,
sehen. Auch die bekannte Beob-
achtung, daß Kinder aus der Er-

2. Iunihcft M9

36s

Von der Sprache
 
Annotationen