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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0439
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Literatur

irmerung die fabelhaftesten Tiere
zeichnen, gehört teilweise hierher.
Sie zeichnen das, was ihnen durch
die Benennung inr Gedächtnis
haften geblieben ist, das übrige
tut die Phantasie. Den Höcker des
Kamels, die Hörner der Kuh wird
schwerlich eines zu zeichncn ver-
gessen. Namengebung entspringt
einem gcistigen Bedürfnis und
unterstützt geistige Tätigkeiten, denn
auch das Geschäft der Sinne, das
Urteil des Auges, das Sehen ist
ja eine geistige Tätigkeit.

Gerade umgekehrt verhält es sich
mit dem seelischen Vedürfnis. Wenn
ich etwas mit der Seele und dem
Herzen schauen will, wenn ich
aus einer Landschaft Stimmung,
Offenbarung, Ahnung lesen möchte,
so ist der Name ein Hindernis, ja
er mordet geradezu die Airdacht.
Denn was mir jetzt ins Gefühl
zu schweben beginnt, ist ein Hauch
aus dem Anendlichen, und nun
kommt der Name und begrenzt
mir das örtlich, mit tausend un°
nützen und ernüchternden Neben-
vorstellungen. Mit einem Wort:
jetzt wirkt der Name prosaisch.
Aus diesem Grunde verzichtet die
Landschaftsmalerei auf Benennung
der Srtlichkeit, und wo sie einmal
nicht darauf verzichtet, empfindet
das der Schauende als einen
kalten Wasserstrahl. Auch darum
lassen uns die Veduten so gleich-
gültig. Ich erinnere mich der
peinlichen Enttäuschung, als ich
einst von meinem geliebten phan-
tasievollen Ludwig Nichter ein Ge-
mäldeabbild zu Gesicht bekam, das
den Namen trug „Der Watzmann
am Abend" oder am Morgen oder
im Herbst, ich weiß nicht mehr. Wir
wollen in der Landschaftsmalerci
weder einen Watzmann, noch eincn
Rigi, weder Rom noch Neapel sehn,
wir wollen die geheimnisvolle, noch
von keinem Menschen erklärte, aber

von jedem Menschen geahnte und
gefühlte Verbindung schauen, welche
die Seele der Außenwelt mit unsrer
Menschenseele eingeht.

Auch außerhalb der Malerei,
im Leben müssen wir die Ent-
nennung vollziehen, wenn wir
selig sein wollen. Das ist aber
eine Kunst, eine gar nicht allge-
meine Lebenskunst; nicht viele ver-
stehen sie; wenige wissen überhaupt
darum. Das Knrü versteht sie,
und darum sind auch Kinderspazier-
gänge so beseligend. Während der
Vater und die Mutter von Dings-
heim nach Ixikofen spazieren, spa-
ziert das Kind in die Welt; es
schaut mit der Seele alles was es
sieht, weil nicht gehemmt von der
prosaischen Örtlichkeits- und Na-
menskunde. Auch die Liebenden
verstehen es, wenn sie nicht zu
gebildet sind und den Baedeker zu
gewisseuhaft studiert haben. Wer
aber selig zu sein verstehen will,
der muß den Antibaedeker studie-
ren, er muß vergessen können, daß
er in Neapel oder am Vierwald-
stättersee wandelt, er muß nur
die Bäume, das Wasser, den Him-
mel und das alles vereinigende
Licht schauen, mit der Seele die
Spinnenfäden ahnen, welche dieses
Bild mit der Uncndlichkeit ver-
knüpfen; cr muß nicht bloß im
Augenblick, zeitlich begrenzt, zu
leben verstehen, sondern auch im
Augenbild, örtlich begrenzt. Es
lohnt sich, dies zu lcrnen, die
Vorbedingung aber um dies zu
erlernen lautet: die Namenkennt-
nis, oder mit einem andern Wort
das prosaische, geographische Orts-
bewußtsein entlassen zu können.

Carl Spittcler

Neue GedichLe

Adolf Holst, „Mit Wolken und
Winden". Neue Gedichte (Leipzig,
Fritz Eckardt)

562 Kunstwart XXII, (8
 
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