Wißt ihr, was ich geben kann? Ihr wißt es nicht, keiner weiß
es. Mir ist die Brust voll von Liedern. Die leben und schlummern
in mir seit Iahrhunderten und sind noch nicht geweckt. Geheime
Quellen will ich öffnen; da taucht die alten Worte ein, daß sie
wieder jung werden und saftig treiben können. Ich will Kinder--
augen leuchtend machen und die Augen der Alten feucht. Die Lauten
sollen schweigend werden und die Schweigenden jubelud, uud die
Menschen sollen das Singen wieder lernen und fröhlich seiu." So
sprach die Orgel.
Das klang so jung, daß sich die alten Steine sehr verwunderten.
„Wir sollten neues Leben sehen?" meinten sie ungläubig. Aber
man hörte nicht auf sie.
Nun war es wieder still. Wieder schlug die Turmuhr, wieder
zogen die Töne ihre Kreise. Da standen wir noch im Gehölz draußen.
Die Stadt schlummerte. Nur einige Straßen waren noch erleuchtet.
Der Dom stand wie ein Wächter. Nnd seine Turmspitzeu schauteu
aus nach der Morgensonne. Gustav Laugen
Lose Blätter
Drei Gedichte
Gebet
^err Gott, der du throust iu Sterncnklarheit
A Aber dem Land,
Deiner Lenden Gürtel Wahrheit, Wahrheit
Dein Gewand.
Herr! durchleuchte mich mit deinem Lichte
Göttlich klar,
Was da Lüge ist in mir, vernichte,
Mach mich klar.
Hcrr, der du in Liebe ruhst verkläret,
Ewig mild,
Sieh, mein armes Herz ist ganz verkehret,
Hart und wild.
Stoß von meinem Herzen, Herr, die Rinde,
Mach es zart,
Härte, Härte ist die größte Sünde,
Leufelsart.
Vater mein, du gabst meinem Geist den Funken.
And cr schafft.
Dein die Kraft! O laß mich niemals prunken!
Dein die Macht und Kraft!
Adle meinen Geist, sein Sinnen und Weben
Wahre rcin!
Oder nimm den Geist — doch nimm zugleich mein Leben,
Vater, Vater mein!
Lnrica von Handel--Mazzetti*
* Aus „Deutsches Rccht und andre Gedichte", Kempten, Köselsche Buchhandlg.
8 Kunstwart XXII, 13
es. Mir ist die Brust voll von Liedern. Die leben und schlummern
in mir seit Iahrhunderten und sind noch nicht geweckt. Geheime
Quellen will ich öffnen; da taucht die alten Worte ein, daß sie
wieder jung werden und saftig treiben können. Ich will Kinder--
augen leuchtend machen und die Augen der Alten feucht. Die Lauten
sollen schweigend werden und die Schweigenden jubelud, uud die
Menschen sollen das Singen wieder lernen und fröhlich seiu." So
sprach die Orgel.
Das klang so jung, daß sich die alten Steine sehr verwunderten.
„Wir sollten neues Leben sehen?" meinten sie ungläubig. Aber
man hörte nicht auf sie.
Nun war es wieder still. Wieder schlug die Turmuhr, wieder
zogen die Töne ihre Kreise. Da standen wir noch im Gehölz draußen.
Die Stadt schlummerte. Nur einige Straßen waren noch erleuchtet.
Der Dom stand wie ein Wächter. Nnd seine Turmspitzeu schauteu
aus nach der Morgensonne. Gustav Laugen
Lose Blätter
Drei Gedichte
Gebet
^err Gott, der du throust iu Sterncnklarheit
A Aber dem Land,
Deiner Lenden Gürtel Wahrheit, Wahrheit
Dein Gewand.
Herr! durchleuchte mich mit deinem Lichte
Göttlich klar,
Was da Lüge ist in mir, vernichte,
Mach mich klar.
Hcrr, der du in Liebe ruhst verkläret,
Ewig mild,
Sieh, mein armes Herz ist ganz verkehret,
Hart und wild.
Stoß von meinem Herzen, Herr, die Rinde,
Mach es zart,
Härte, Härte ist die größte Sünde,
Leufelsart.
Vater mein, du gabst meinem Geist den Funken.
And cr schafft.
Dein die Kraft! O laß mich niemals prunken!
Dein die Macht und Kraft!
Adle meinen Geist, sein Sinnen und Weben
Wahre rcin!
Oder nimm den Geist — doch nimm zugleich mein Leben,
Vater, Vater mein!
Lnrica von Handel--Mazzetti*
* Aus „Deutsches Rccht und andre Gedichte", Kempten, Köselsche Buchhandlg.
8 Kunstwart XXII, 13