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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1909)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Erfahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0093
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Iahrg. 22 Zweites Aprilheft 1909 Hest l4


Vom Erfahren

^^as gehört zu den Dingen, die der Alternde am langsamsten zu
begreifen lernt: daß so viele Dummheiten immer wieder von
frischem gemacht werden müssen. Z. B.: Du hast deinerzeit
reichliche gemacht in Liebessachen, und mit der Stimme des Weisen,
der alles hinter sich hat, ermahnst du nun den Sohn: falle nicht auf
diese Gans da hinein, mein Kind! Er hört dir ehrerbietig zu, denkt:
gerade davon versteht der Alte nichts und sieht weiter Nike-Fittiche
auf seines Lieblingsgeflügels Schultern. Oder: er ist der Ansicht,
daß sein Freund ein sehr wesentlicher Dichter sei, nicht gerade der
größte (den nennt er aus Bescheidenheit nicht), aber doch immerhin
so etwas, wie eine Vereinigung von Shakespere (ohne seine Mängel)
mit Goethe (ohne die seinigen). Bezweifelst du das, so sagt er:
^Aber so lies doch, was cr geschrieben hat!" Nnd bist du auch dann
noch nicht ganz überzeugt, so fühlt er seufzend die Notwendigkeit,
daß er die gegenwärtige Epoche doch erst, durch eine Rezension im
Pirnaer Tageblatt, werde aufklären müssen.

Eine Erfindung, die geraten, ein Experiment, das gelungen, eine
Berechnung, die geglückt ist, ja: haben wir deren Lrgebnisse, so behalten
wir sie meistens auch. Alles, was so abstrakt ist, daß es unsern
Menschenkram nicht weiter berührt, und auch alles, was uns gut
in ihn hineinpaßt, alles das können wir von Geschlecht zu Geschlecht
ziemlich unbesorgt um seinen Verlust und sogar um seine Intaktheit
weitergeben. In unserm Herzen aber wohnt ein Männlein, das
wirft zwar gelegentlich Eis ins Blut, öfter jedoch stellt es den ganzen
Topf aufs Heizfeuer, daß er ins Gehirn dampft. Was irgendwie zu
diesem eingeschlossenen Wesen dringt, das reizt es zu irgendwelchem
Sichdreinmischen, und ob der Chor der Alten noch so eindringlich
rufe: laß es wie es ist, Herzmännlein, es läßt es doch nicht so.
Was wir uns selbst mit Hilfe unsrer Herzmänner erfühlt und „er-
glaubt" haben, muß für die Nachfahrer immer wieder in ihre Kessel,
wird aber dabei, die Religionsgeschichten erweisen es, nicht immer
schöner. Iedoch auch das Beweisbare wird von der Iugend nie ohne
weiteres hingenommen, wenn Wunsch und Wollen in der Nähe sind:
die sind immer die lautesten, und erst die eigne Erfahrung kann
mittels pädagogischer Massage durch Seitenpüffe und Kopfnüsse auch
gegen ihr Geschrei ankommen.

Erfahren* ist das Ansammeln und Derarbeiten von Lrgebnissen,
so daß sie ihrerseits wieder zu Einsammlern, zu Verarbeitern werden.
In dieser Beziehung gibt es keine ,übeln" Erfahrungen: insoferne
ist eine jede gut, als sie ein Stück Gewappen mehr zum Auseinander-
setzen mit der Welt in unsre Rüstkammer trägt. Nur, daß es uns

* Line wissenschaftliche Definition und Untersuchung dcs Wesens der
Empirie schcint mir für dcn heutigen Zusammenhang völlig entbehrlich und
gehörte wohl auch kaum an diesr Stelle. A

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