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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Der Jugend
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0170
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Iahrg. 22 Erstes Maihest l S09 Hest l 5

Der Iugend

ist dieses Heft gewidmet. Ganz ansprnchslos und nicht weniger als
ausschließlich und systematisch, nicht so, daß wir einem äußern Schema
zulieb alle anderen Beiträge zurückgestellt, geschweige denn, daß wir
versucht hätten, auf so wenigen Seiten ein Thema einigermaßen zu er-
schöpfen, das auf hundertmal mehr Blättern nicht zu erschöpfen wäre.
Das Heft kam so zusammen. Wir nahmen uns vor, aus unserm Vorrat
einmal ausschließlich Beiträge, die von Kindheit und Iugend handeln,
zu denen zu stellen, die den Ereignissen des Tages folgen müssen.
Als wir sie beieinander hatten, waren es aber so viele, daß sie für drei
und vier Hefte gereicht hätten. So ist das Gebotene einfach ein bunter
Strauß von allerlei Frühlingsblüten.

Aber das Sammeln selbst hat uns an der Fülle des überall
Sprossenden anschaulich gezeigt, wie reich und vielfältig es doch
jetzt auf diesen Geländen treibt und blüht, ganz wie zwischen Ostern
und Pfingsten draußen. Vom „Iahrhundert des Kindes" zu sprechen,
erscheint uns allen schon nicht bloß natürlich, es scheint uns
beinahe schon banal. Das Kind, das Tier und sogar schon die
Pflanze werden zum Gegenstand psychologischer lintersuchungen ge-
macht, und soziale Erscheinungen aller Art vom Mutterschutz über
Iugendfürsorge, geschlechtliche Erziehung und Iugendgerichte hin
bis zu all den wichtigen Aufgaben der Schule und der Bildung
überhaupt weisen auf eine unerhörte Teilnahme der Denkenden an
den Problemen, wie dem kommenden Geschlecht zu helfen sei. Mit
theoretischem Interesse läßt sich das kaum erklären. Was arbeitet als
Trieb im Anbewußten dahinter? Das alte tiefe Heimweh zur Ursprüng-
lichkeit, das zum letzten Male zu Rousseaus Zeiten die regen Geister
allgemein bewegte? Das Gefühl, daß wir selber dem gelobten Lande
zu fern sind, als daß wir's erreichen könnten, so daß alles daranzusetzen
sei, der Iugend dahin zu verhelfen? Das alte Gesetz, daß die Natur
mehr noch für die Erhaltung der Art sorgt, als für die Erhaltung des
einzelnen? Oder sind das alles nur Außerungen ein und desselben
oder nur Nmschreibungen ein und desselben Grundtriebes?

Eins ist gewiß, und das ist gut, ja, es ist herrlich: in diesem unserm
Verhältnis zur Iugend, das sich heute so tausendfältig bekundet, ist
erstaunlich wenig Sentimentalität, ist sogar erstaunlich wenig Elegie.
Unsre Eltern und gar unsre Großeltern fühlten da in ihrer Mehr-
zahl anders, wenn wir ihren Schriften und Bildern glauben dürfen.
Die meisten von ihnen sahen mit wehmütigen Blicken zurück ins
Kinderland, nach verlorenen Paradieseswegen, nach den Winden in
der Ahnen Garten, nach dem weltfernen Platz weit weit dahinten.
Eine Stimmung, die jeder in sich erlebt, der älter wird. Und deren
süßtraurigen Zauber der einzelne sicherlich auch genießen darf.
Eine Stimmung aber, die als die einer Kultur sicher ein Zeichen
von Schwäche ist. Es war eine feine, schöne, vollendet schöne Kultur,
der sie entsprang, aber eben eine vollendet schöne: eine Kultur, die

i. Maiheft iZOd
 
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