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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0206
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barkeit selber. Mcht aber wie eines
fremden, sondern wie eines holden
Lebens, das mit uns, wcnn wir
Eltern sind, auf das allerinnigste
verwachsen ist. Warum hält man
so verhältnismäßig selten fest, was
man da genießt? Was man täg-
lich gesehen, gehört und miterlebt
hat von den Kleinen, das sollte
man mit dem Streben nach rück-
haltloser Aufrichtigkeit hier kurz
verzeichnen. In dem Kindes-Tage-
buch, vou desscn Dascin das Kind
am bcsten gar nichts weiß, damit
keinerlei Befangenheit und auch
keinerlei Eitelkeitswunsch entstehe.
Auch Bildchen (Augenb licksphoto-
graphien!) und sonstige Erinne-
rungszeichcn gehörcn hinein. Man
traue dcm Gedächtnis nicht llnmög-
liches zu: wcnn es noch so vor-
trcfflich ist, blasser wird es doch,
und wenn es frisch bliebe, es
brauchte doch der Anrcguugen, der
Weckrufe. Nur, wer's erfahren hat,
iveiß, welche ganz wundersame
Fülle von Leben in spätern Iahren
aus eincm Kindes-Tagebuche den
älter Gewordenen aufblühcn kann,
den Eltern wie den Kindern. A

Ehe der Mensch „leben" darf, muß
er existieren lernen.

Das ist das erste, was der Er°
wachsene zu vergessen Pflegt, daß
es auch für ihn einmal sehr schwer
war, die Welt überhaupt zu sehen,
die Grundbedingungen kennen zu
lernen, auf denen sie sich auf-
baut, die Logik und Ethik des
Nicht-Ichs einzusehen. Da der
Mensch ein denkendes Wesen ist,
lebt er, sobald die eigentliche Kind-
heit überstanden ist, vor allem in
Begriffen und unter geistigen Ge-
sichtspunkten. Es handelt sich nun
darum, diese Begriffe so weit zu
machen, daß wenigstens der Teil
der Welt, in dem man geistig und
körperlich lebt, darin Platz hat.

Denkt man an seine eigne Iu-
gend zurück, so muß man oft
staunen, mit welch engen, unzu-
reichenden Begriffen man an die
ungeheure Fülle des Lebens her-
antrat. Und noch mehr staunt
man darüber, daß man mit diesem
engen, armen, kümmerlichen Welt-
bilde auch nur einen Tag leben
konnte. Wie ist es möglich, fragt
man sich, daß ich mir bei diesem
gänzlichen Mangel an einiger-
maßen richtigen Voraussetzungen
nicht sofort am nächsten Problem
den Schädel einstieß? Und man-
chem, der sich rückwärts wieder in
seine Iugend einfühlend versenkt,
mag es zumute werden wie dem
Reiter am Bodensee.

Aber nicht nur die begriffliche
Einteilung der Erscheinungen fällt
dem jungen Menschen schwer. Sie
hat ja nur den Zweck, den Men-
schen den Dingen gewachsen zu
machen; immerhin aber kann man
schlimmstenfalles dem Anverstan-
denen gegenüber sich ins Staunen
flüchten. Schlimmer steht es mit
dem praktischen Verhalten dem
Fremden, Feindlichen gegenüber.
Da das Leben im jungen Menschen

Äugend

Hs>on Lcbenskunst spricht man
^^gemeinhin nur im Sinne einer
Lebenstechnik, einer bewußten, ziel-
strebigen Skonomic der Kräfte, wie
sie beispielsweise im Falle Goethes
auf Klarheit und Harmonie, im
Falle Oskar Wildes auf malerische
Wirkung höchst romantischer Art
ubzielt. Aber ehe noch der Mensch
daran denken kann, in diesem ge-
steigerten, bewußten Sinne zu
„leben", tritt eine andere, rohere
Aufgabe an ihn heran; die Auf-
Zabc nämlich, sich überhaupt ein-
ural in der Welt zurechtzufinden
und dic ersten positiven Beziehun-
8en zum Nicht-Ich anzubahnen.

^ l Maihcft 1909 (65

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