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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Laiengedanken vom Richtertum
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0400
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genaueste wissen, wie der Einzelfall gelegen hat!« Ich gehe nicht
nur nach Berichten, ich gehe auch nach dem, was ich selbst sah,
hörte und miterlebte. Aber bedentet im Grunde jener Einwand
etwas anderes als: es kommt immer darauf an, ob dieser oder jener
Paragraph anznwenden war? Also sagen wir nicht: „ebenso gut,
man knobelt's aus", sagen wir: man wirft's in die Roulette und
sieht, auf welche Nummer die Kugel springt. Mehr oder weniger
Schwung beim Drehen, tut's das? Iedenfalls: auf welche Nummer,
das tut's. Ein paar Tage wegen groben Nnfugs hier, neun Monate
wegen Aufruhrs dort, je nachdem, bis zu welcher Nummer die Kugel
schnellt. Ist unsre Rechtspflege ein Paragraphenspiel geworden?
Auch die Wahrheitsermittlung und tatsächliche Feststellung ist ja oft
von dem abhängig, was wir Zufall nenueu. Wenn sich im Harden-
schen Prozeß alles, alles wenden muß, weil ein bayerischer Richter
seine Pflicht anders als ein norddeutscher auffaßt, wenn anderswo
verurteilte Kinder nur deshalb befreit werden, weil zufällig einmal
einer im Zuhörerraum war, der den Fehler durchschaute und „keine
Ruh ließ", wenn anderswo einer als schwerer Verbrecher bestraft
wird, der sich Frauenzimmerhaarnadeln stahl, um mit ihneu im
eignen Haar sofort zu paradieren, während keiner darauf verfiel,
eineu Psychiater zu fragen — so macht ein bescheidenes Nachdenken
wahrscheinlich, daß tausend Fehlsprüche unbeachtet vorbeischwimmen,
während zehn irgendwo aufgefischt und gezeigt werden.

Wir haben keinen Richterstand, der schlechter wäre als irgendein
andrer unsrer Stände. Man behauptet unwidersprocheu, daß uusre
Richter überbürdet seien mit zu viel Arbeit. Sie sollen ja sogar
letzten Endes als Äbersachverständige noch entscheiden, ob die Sach-
verständigengutachten richtig sind. Auch über die Vor-Bildung der
Iuristen, die Vor-Nnterrichtung wie die Vor-Erziehung sprechen be-
kanntlich die Meinungen in ihren eigenen Kreisen verschieden genug.
Aber nur ganz selten ist in Deutschland behauptet worden, daß eiuer
unsrer Richter das Recht auf höheren Wunsch bewußt gebogen habe,
und kaum jemals: daß er bestechlich sei. Den guten Glauben haben
selbst die Gegner unsrer Gesellschaftsordnung nur in seltenen Aus-
nahmefällen bezweifelt. Nochmals: Gesetzgebung und Rechtsanwen-
dung sind Ausfluß des Geistes einer Gesellschaft. Redet doch bei
Schöffen- und Schwurgerichten diese Gesellschaft auch ohne juristische
Vorbildung mit. Die Tatsache, daß unser Volk so langsam zum
neubauenden Willen kommt, hat also wohl denselben Grund, wie die
Rechtssprüche selbst, die es mit Simplizissimusstimmung hinnimmt,
statt mit solcher Zähigkeit gegen sie aufzutreten, daß geschieht,
was zur Besserung geschehen muß. Denselben Grund, nämlich:
Lauheit des Rechtsempfindens überhaupt.

Prüfen wir uns auf Herz und Nieren, ich fürchte, so müssen
wir das eingestehn: an Lauheit des Rechtsempfindens leiden wir
alle. Guter Glaube kann ja damit in traulicher Kameradschaft
gehn. Wir sind ja uicht da lendenschwach im Rechtsgefühl, wo wir
ganz unbefangene Zuschauer siud, wir sind es nur da, wo irgendein
andres Interesse dazwischenflüstert. Dieses andre Interesse braucht
keiu niedriges zu sein. Es braucht auch nicht bewußt zu sein.

2. Iunihcft 1909 323
 
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