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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Kulturarbeit und Kulturpolitik
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Fischer, Eugen Kurt: Conrad Ferdinand Meyer: zum 100. Geburtstag des Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0019
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Politik sein. Sicherlich hai sie eine sehr andere Mechanik als die Kulturarbeit. Es
mag sein, daß sie die größte aller Aufgaben, die umfassendfte, in sich fchließk. Aber
jegliche Politik — merken wir es nicht heute brennender als jel? —, jegliche Partei
und jegliches Volk wird kultivierter Persönlichkeiten bedürfen, die tolerant, obwohl
hart, entfaltet, geiftoffen, frei und emporgebildet sind, mögen sie das „rationale
Gefchäft" noch so gut verftehen. Die Politik fchafft auf ihre Art die Lebensbedin-
gungen der Kultur, obwohl die Politiker herzlich wenig daran denken. Kultur-
arbeit ftellt umgekehrt für die Politik bereite Menfchen bereit. Jft sie echt, Geburt-
hilfe im Geift der Liebe, so wird sie jeder politifchen Bemühung zugute kommen und
gesegnet sein als Bereiterin einer Zukunft, in der alle Politik Kultnrpolitik sein
mag, da die Parallelen sich im Unendlichen fchneiden. Jn diesem Sinne auch vor
der höchften Jnftanz der Nation und der Menfchheit, vor der fernften Zukunft
gerechtfertigt, sei der Dienft am Menfchen abermals als Aufgabe und Ziel bekannt.

Ech

Conrad Ferdmand Meyer

Zum loo. Geburtstag des Dichters

^i^er Reigen der „Zeitlosen" geht ununterbrochen durch das Auf und Nieder
^ Ides Geschichtslaufs. Wohl si'nd auch sie mit ihrer Umwelt verkettet, leben
vom geiftigen Erbe derer vor ihnen und reagieren auf den nämlichen Kom-
pler zeitbedingter typifcher Eindrücke wie ihre Umwelt, aber im Mittelpunkte
ihres Wesens gehorchen sie einem überzeitlichen Gesetz. Conrad Ferdinand Meyer
ift einer von ihncn. Von wenigen Gedichtimpressionen abgesehen (Jm Spätboot,
Eingelegte Ruder) spiegelt keine seiner Dichtungen seine eigene Umwelt wieder.
Die Zeit, in der er lebt, ftellt diesem Dichter keine Geftaltungsaufgaben. Wohl
sind „HuttenS letzte Dage" vom Kriegsereignis 1670 und der Reichsgründung an-
geregt, wohl fassen manche die „Leiden eines Knaben" als verkappte Darftellung
seiner eigcnen leidvollen Jugendtage auf, aber die Beziehung ift nie eine unmittel-
bare, die Maskierung so vollkommen, daß auch der Pulsfchlag kaum durchhallt.
Meyer fühlte sich nicht wohl in seiner Zeit. DaS Leid der Romantiker war sein
Leid, ihre Schwäche die seine: LebenSuntüchtigkeit. Er hatte von der Mutter die
fchwachen Nerven — Krankheit des JahrhundertS! — mitbekommen und die zwie-
spältige Seele, die doch nie bis zum tragifchen Konflikt sich durchlitt, weil ihr
Träger vom Schicksal nicht in Kampfftellungen getrieben wurde, die ftarkeS Han-
deln forderten oder den sicheren Untergang brachten. Meyer litt sein ganzes
Leben lang — und zweimal mußte die Jrrenanftalt dem entzündeten Gemüt Linde-
rung bringen —, aber er kämpfte mit keinem Dämon, sondern er setzte der Welt,
die er nicht ertrug, eine Wunderwelt entgegen und verkleidete beide bis zur Un-
kenntlichkeit in das Koftüm ferner Zeiten, die größere Menfchen forderten und
auch hervorbrachten als, wie er glaubte, die sei'ne. Dichter sein ift ein Ausweg.
Herrfcht das äfthetifche Prinzip vor, so bleibt's bei der fchwachen Spiegelung deS
Lebens, ohne Sehnsucht nach der Tat, bekämpfen sich ethifches und äfthetifches
Prinzip, so wird die Dichtung problematifch, wie bei Meyer, brauchk aber nicht
unbedingt, wie bei Goethe, durch Aktion ergänzt zu werden, siegt das ethifche
über das äfthetifche Prinzip, wie bei Tolftoi und zeitenweise bei Strindberg, so
versagt die Feder, und der Kampf mit der Wirklichkeit verdrängt ihre gleichms-
und symbolhafte Betrachtung. Dahin kam Meyer nie. Die Gegensätze seines
LebenS, deren Synthese — im Kunftwerk! — bisweilen versucht wurde, blieben, ins
Begriffliche geläutert und verdünnt, nebeneinander beftehen, gleichsam als abwech-
selnde Anfchauungsformen seines Geiftes. Er litt darunter, aber er überwand

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