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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 1 (Oktoberheft 1931)
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Ullmann, Hermann: Krisenpsychose und Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0024
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geben, rn denen die menschliche GestalLungskrasL stockte. Dann wuchs die
(ursprünglich vom Menschen geschaffene) soziale und staakliche Wirklichkeit
weiker, ohne daß die menschliche Gestalkungskrask nachkam. Es genügk ja
nichk, daß noch „Anpassung" an die sich wandelnde Wirklichkeik gelingk, auch
der Kolbenheyersche Begriff der „schöpserischen Anpassung" reichk nichk ans.
(Selbst aus die Gesahr hin, eines Rücksalls in den Idealismus geziehen zu
werden, muß man das aussprechen.)

Es handelk sich nichk nur darum, daß sich das innere Verhalken der Wirk-
lichkeik „anpaßk", sondern darum, daß es ihr gestalkend überlegen bleibk,
ihr vorauseilk, ihren Wandel gewissermaßen aussängk. Gelingk das nichk,
so enkstehk eine Spannung zwischen äußerer Ansorderung und innerem
Bermögen, der Mensch „kommk" nichk mehr „mik", es enkstehen „Fehl-
reakkionen", die bis zur Lebensgefährdung gehen. Die ofk große äußere Akki-
vikäk ist dann in Wahrheik nur noch Recckkivikäk, ihr enksprichk nichk innere
Akkion, sondern innere Passivikäk. Passivikäk bei höchster Spannung zwischen
Wollen und Können, Lähmung, Psychose.

Von da aus gesehen, befindek sich ganz Europa seik dem Zusammenbruch in
einer Massenpsychose. Bei großer äußerer AkLivikäk war in diesen eineinhalb
Iahrzehnken nirgend die schöpserische Krask der scheinbar plötzlich gewandelken
Wirklichkeik gewachsen. Der Krieg hak die vorläusig leHke große wirk-
liche Akkion der weißen Menschheik entladen. Seikher ist sie, mehr oder
minder bewußk, nur noch Objekk, passiv, hinker der Wirklichkeik her. Die
Psychose dieser erzwungenen spannungsreichen Passivikäk droht dork am
stärksten, wo man sich am längsten vor dem Anblick der gewandelken Wick-
lichkeik verschließk und mit der alken Wirklichkeit am nächsten verbunden ist.
Im Augenblick des deukschen Znsammenbruchs versagken sehr viele von
denen am schwersten, die bis zulehk verkünden mußken: „die Westsronk stehk".
In der Wirkschafks- nnd sozialen Krise versagen vor allem die Spezialisten
der bisherigen Wirkschasks- nnd Gewerkschaskssührung, in der Welkan-
schauungskrise die Spezialisten der bisherigen Bildung nnd Kirchlichkeit,
in der Generakionenkrise die Pädagogen, in der Krise des Skaakes die Poli-
kiker und Bürokraken. Das dars nichk Vorwürse anslösen, muß aber klar
gesehen werden. Da überall die Spezialisten der alken Mekhode den Appa-
rak in der Hand haben und der ckrachwuchs keine Möglichkeik zum Ickach-
wachsen hak, so wirkk sich dio Krisenpsychose von oben her, als Versagen
aller Aukorikäk aus. Wo noch Antorikäken bestehen, scheink das nur möglich
durch ein stark reaktionäres Berharren in einer Halkung, die ans eine Fluchk
in Illusipnen hinausläusk, durch eine scheinbar noch krisengeschüHke Isolie-
rung gegenüber der Umwelk. Das gilk zum Teil sür die Klassengläubigen der
ganzen Welk, soweik sie sich nach der Klasse absondern, und sür einzelue
Völker wie Frankreich, soweik es von seiner kolonialen Aukarkie mik dem
Rücken gegen Enropa kräumt. Gerade an solchen Skellen des Berharrens
in Berbundenheik mik ehemals Wirklichem drohk aber der schwerste Ein-
bruch. Hier überwächst der Wandel der WirklichkeiL das innere Bermögen
am stärksten und weikesten und ein Ausgleich der nngeheuren Spannung
wird üm so schwerer, je weiber er hinausgezogen wird. Das ist der (recck-
kionär gedüngke) Boden sür Revolukionen.

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