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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
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Ullmann, Hermann: Krisenpsychose und Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0025

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Das andere ExLrem stellk Deukschland als Ganzes dar. Hier bestehen über-
haupt keine das Ganze umfassenden staaLlichen AutoriLäLen mehr, son-
dern nur noch TeilauLoriLäLen. Hier (und in dem größten Teil von
MiLLelenropa) wird die Krisenpsychose, die von oben ansgehende Läh-
mung gegenüber einer übermächtigen WirklichkeiL noch verstärkL durch die
stark verbreitete „Bildung". Bildung im bisherigen Sinne zeigL sich in
dem Augenblick als Halbbildung, wo sie sich prakLisch als unbrauchbar zur
Meisterung des Lebens erweist, wo sie keine gestaltende ÜberlegenheiL über
die WirklichkeiL mehr ermöglichL, sondern im GegenLeil durch ein starres und
anspruchsvolles Spezialistentum sogar die persönliche vitale Anpassung an
die WirklichkeiL hindert. Dieser sogenannte GebildeLe, der aus jahrelangem
Spezialstndium den Anspruch auf geistige und materielle Sicherung herleiteL,
siehL sich plöHlich nichL nur der materiellen, auch der geistigen Entwurzeluug
gegenüber. Er kaun nicht begreifen, daß die mühselig erworbenen Bildungs-
werte an sich nichts bedeuten in einer SiLuation, in der es gilL, miL allen
MitLeln sich in einer allgemeinen Bedrohung des Lebens zu behaupten, ja in
einem Augenblick, der eben erweist, daß das allzu lange FesthalLen an alten
MeLhoden der geistigen und Lebensführung diese äußersie Bedrohung hervorge-
rnsen hat. Dieser also enkwurzelte und zugleich aus höchfke Ansprüche dres-
sierte GebildeLe ist der eigentliche Träger der von Passivität und leerer Reak-
LiviLäL genährten Krisenpsychose. Seine radikalißische HalLung ist um so
schwerer zu bekämpfen, als er, weun er durch die Psychose sich durchringt,
zugleich das wesenLlichste soziologische ElemenL des seelischen allgemeinen Hei-
lungsprozesses bilden wird. Das heißt, daß dann seine BildungswerLe eine
geistige und sittliche Haltung erzeugen können, die der Krisenpsychose am
wirksamsten entgegenwirkt. Einstweilen freilich scheint es, als sei die Über-
süllung Deutschlands mit hoffnungslos Gebildeten eine der Hauptursachen
für das geistig-politische Chaos, dessen Höhepunkt noch nicht überschritten ist
und das einer Mejsterung der Wirklichkeit am meisten im Wege steht. Die
FluchL der jüngsten GeneraLion in Sport und Technik erscheint angesichts
dieser Sackgasse, in die unsere BildungsarbeiL geraten ist, geradezu, bei allem
Beigeschmack des unnahrhaften SurrogaLs, als eine unwillkürliche Geste
des SelbsterhaltungsLriebs. ^

Wir haben also dort, wo der Wandel der WirklichkeiL am schwersten und
unmittelbarsten fühlbar ist, vor allem bei den „Besiegten", mit der stärksten
Krisenpsychose zu rechnen; das aber heißt: mit dem stärksten Zerfall der bis-
herigen Autoritäten und mit sehr langsamem ITachwachsen einer neuen Krisen-
sührung, die ihrerseits zunächst von der Krisenpsychose der Nation lebt.
Wir erleben eine langsame Ausbreitung dieser Krisenpsychose über ganz
Europa und haben allen Grund anzunehmen, daß die Bölker und Klassen,
die durch sie a,m frühesten hindurchgehen, am ehesten zu einer Gesundung und
neuen Meisterung der Wirklichkeit gelangen werden. Wir nehmen also diese
Krisenpsychose energisch in unseren Willen auf, wir „drücken" uns nicht um
sie, wir slüchten nicht mehr in Illusionen und Allheilrezepte, weil wir damit
den Heilungsprozeß nur verzögern. Bei allem leidenschastlichen Streben
nach Erkenntnis der Wirklichkeit, der wir nachzukommen haben, wenn wir

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