Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Ullmann, Hermann: Krisenpsychose und Wirklichkeit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0026

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
am Leben bleiben wollen, werden wir uns doch dessen bewußt sein, daß unsere
Erkenntnis durch unseren Zustand sehr beengt iß, und daß alles vorzeitige 2lb-
biegen in bequeme, handliche, eingängige Formulierungen und Erledigungen
uns nicht förderk. Eine mutige Kritik wird uns dazu verhelsen, bei größ-
ter Aufgeschlossenheit abschljeßende Urteile nnr dann zu sällen, wenn wir
uns innerlich ganz sicher sühlen, bei bestem intellektuellem Gewissen, wenn
wir keinen Schwindel, keine Sprünge mehr uns leisten müssen, keine Phrasen
und Ausflüchte, mit denen wir nur der Krisenpsychose neue Nmhrung geben
— und vor denen dennoch heute alle „Bildung", unter dem großen seelischen
Druck, nicht schützt.

Es gibt viele ßarke Versuchungen aus diesem Wege eines „heroischen Rea-
lismus", wie z. B. Herrigel diese Haltung genannt hat. Nachdem die
Illusionen des liberalen Bürgertums nicht standgehalten haben, jene Bor-
ßellung, als handle es sich um Teilkrisen eines im Ganzen doch weiter-
lebenden Systems, um eine Episode in der großen Zeit, die mit Descartes be-
gann nnd langsam zum Hochkapitalismus sortschreitet, nur um eine Pause
also im „Fortschritt" — nachdem diese Llujfassung sich verslüchtigt hat, sind
viele MLtläuser einer „konservativen" Aufsassnng zu zählen. Sogleich aber
zeigt sich auch, wie schmal der Weg ist, der vielleicht konservativ genannt wer-
den kann, besser aber, wegen der aus dem Politischen bezogenen Mißverständ-
nisse, noch einen neuen Namen sindek, wenn er durchaus einen haben muß.
Die Lhn gehen (und nicht erst seit dem Kriege gehen, wie vor allem alle
sührenden Köpfe des „Auslanddeutschtums"), brauchen keinen Namen. Die
konservativen Politiker aller Länder, zumal aber Deutschlands, zeigen jeden-
salls am deutlichsten die zwei häusigsten Möglichkeiten, von jenem schmalen
Wege abzurutschen. Auf der einen Sejte geraten sie oft in einen ziel-
losen Zynismns; auf der andern in ein idealistisches Pathos, das sich reaktionär
auswirkt. Über den Zyniker, der mehr aus Snobismus und weil er zn
intelligent ist, im alten liberalen Fahrwasser weiterzuschwimmen, als ans
innerer Not sich znm „Konservativismus" schlägt, braucht man nicht viel
Worte zu verlieren. Mehr Beachtung verdient der ehrliche, idealistische Pa-
thetiker, der einer tiefen Neigung in sich und im deutschen Volke, namentlich
bei den „Gebildeten", entgegenkommt und recht eigentlich die Zuflucht des un-
politischen Deutschen, wenn er in die Politik gezwungen wird, darßellt.

Er hat richtig erkannt, daß die jetzt zerfallenden Autoritäten im Grunde
schon am Ausgang des Mittelalters geslorben sind; daß Staat, Kirche,
Rechtsinslitutionen, Bildnngseinheit, alle neuen Autoritäten seit der Refor-
mation im Grunde nichts anderes darstellen als weltliche Formen der mittel-
alterlichen Gemeinschastsbindungen, Säkularisationen alter religiöser Bin-
dungen. Diese Entdeckung hat für den, der innerlich auf sie vorbereitet war,
weil ihm die Autoritäten des neunzehnten Jahrhunderts längst verdächtig
waren, etwas Befreiendes; freilich nur, wenn er zutiefst jenen nicht näher zu
begründenden Glauben hegt, der eine unmittelbare Äußernng des Lebens
selbst zu sein scheint und immer wieder Gemeinschaft bildet. Statt sich aber
nun an der lebendigen Unmittelbarkeit dieses Glaubens (oder an den sür
ihn noch vorhandenen ältesten Formen) genug sein zu lassen, geben sich weite
Kreise namentlich in Deutschland einer reaktionären Romantik hin, die von

7
 
Annotationen