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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 4 (Januar 1932)
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Michel, Wilhelm: Neuer Blick auf die Kulturkrise
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0262
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mutet isi, läuft völlig gleichsiunig mit der wirLschaftlichen und sozialen, in der
wir schon viel Liefer begrifsen sind, als viele ahnen. Deshalb brennL uns, weil
wir diese GleichsinnigkeiL spüren, brennL das Herz gerade uns „Geifiigen",
wenn wir irgendwo Zeichen der Aufwühlung des modernen Menschen sehen,
sei es auch nur jene moralische Auswühlung, jene lkngeduld und BegehrlichkeiL,
miL der ßeute alle BenachLeiligLen über ihre Lage hinausblicken und die man
im Film heuLe so osk geschilderL sehen kann. Alles ist von allen begehrL,
alles ist allen grundsählich erreichbar. (Ielbst die vielen unechLen Nkenschen,
die heuLe herumlausen, als schlechLe Kopien eines männlichen oder weiblichen
Filmstars, die SonnLagnachmiLLag-Vampire, die Schreibmaschinen-Garbos,
die VierLelskavaliere — sie sind Ergebnisse einer Liesgehenden Beunruhigung,
eines Hinauswollens in eine breiLere soziale WelL.

Ein solcher von sich selbst sorLstrebender, seine WirklichkeiL verleugnender Mensch
ist sreilich, als Person genommen, eLwas tbkegaLives. Aber das eine kann er
heute beanspruchen, daß er als Opser einer Umbildung der WerLmaßstäbe
verstanden wird. Bisher war der individuell durchgesormLe, der miL seiner
WirklichkeiL stilmäßig übereinstimmende Mensch der Maßstab. Aber dieser
Maßstab kann nur GelLung behalten in einer leidlich stabilen Welt, die jedem
die MöglichkeiL eines sinnvollen, ersüllLen Lebens gibt. Er wird sosorL hin-
sällig, Wenn diese MöglichkeiL schwindeL.

Ein großes SLaunen kann einen besallen, betrachtet man, daß die heutige Mas-
sen-Erwerbslosigkeit über die bisherige soziale WelL im selben Sinne hinaus-
deutet, wie es die KulLurkrise im rein Geistigen LuL. Zersallende Grenzen hier
wie dorL. Hier wie dorL die dringende ZumuLung, Negatives „herein" zu neh-
men, hier den Raum des Bewußtseins, dort den sozialen, den wirtschastlichen
und politischen Raum so zu erweitern, daß vieles bisher VerdrängLe darin
Platz sindet und aus vielem bisherigen Entweder-Oder ein neues Sowohl-
als-auch wird.

Marxisten werden vor diesem Parallelismus nichL in Verlegenheit sein. Sie
werden ihn miL den MiLLeln des historischen Mmrrismus erklären. Und es
läßL sich nicht leugnen, daß diese Erklärung rechL weiL reichen könnte. Aber
gerade an die erregenden PunkLe dieses Parallelismus kommL auch sie nichL
heran. Wo und wie stehen Einstein und Plauck, Bachosen und Rkietzsche miL
den Tatsachen, die dem Marxismus als die „bewegenden" gelten, in Bezie-
hung? Wie ist diese Beziehung sür Freud oder Zung nachzuweisen? Wie
für jene Borläuser des modernen Denkens, die man so zahlreich im Bezirk
romanLischeu Denkens, in der klmgebung Hegels, Schellings, Carus' sindet?
cklnd wie schließlich sür Hölderlin, der als erster unker allen Europäern mit
der „NachLansichL" des GriechenLums ernst gemacht hat? Seine Rede des
Empedokles an die Agrigentiner, seine Rede des Manes über den großen llm-
sturz sind wie angesichts heutiger Erregungen, Wünsche und Kämpse gespro-
chen. llnd doch war damals die moderne WelL nach ihrem Lechnischen und
wirtschastlichen Bestand nicht einmal angelegt, geschweige denn so durchgesormL,
daß diese Form schon Wirkungen häLLe entsalten können.

Der Schluß daraus kann nur lauten, daß das Schicksal, das heute über uns
ist, von weither kommt, daß es kein llnglückssall und keine bloße Krise ist,
sondern ltbergang zu einer neuen menschheitlichen Stuse. Aber unverständlich

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