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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 4 (Januar 1932)
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Michel, Wilhelm: Neuer Blick auf die Kulturkrise
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0261

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Schlchtrmg, das VerbrecherLum, Lritt buchsiäblich aus der N'achL an den Tag
und eLablierL sich als „SLand" (vgl. Berl, „Die HeraufkunfL des fünfLen
SLandes"). Man ginge fehl, wollLe man sagen, damit geschehe der Gesell-
schaft nur eine von außen kommende GewalttaL. Es gibt, wenigsiens in An-
deutungen, eine 2lrL geisiiger RezepLion des VerbrecherLums. Gewisse Schund-
serien haben erklätte Verbrecher zu Helden. Der FLlm zeigt Spuren einer
Verherrlichung gewisser VerbrecherarLen, z. B. des Hochsiaplers, aus denen
man eine gemindette moralische Abwehr herauslesen kann.

Es bleibt jedem unbenommen, an solchen Dingen Ärgernis zu nehmen — aber
versianden sind sie ersi dann, wenn man sie im Zusammenhang mit dem allge-
meinen Vordrmgen des „RkegaLiven" zu sehen vermag. Im Büchereiwesen
gibt es heute den Kitsch- und Schund-StteiL, der sich um die Frage dreht,
ob öffenLliche Büchereien nicht auch SchundliLeraLur berücksichLigen müßten,
weil diese für Frühsiufen des Lesens doch noch einen „genetischen" WerL haben
könnte. Im modernen Forschen sieht man immer wieder, daß die Dinge gern
von der „N'achtseiLe" her angegangen werden, d. h. von der Seite her, die
früher als RkachLseite galt. Das gilt für Bachofen wie für Frobenius und
Freud. Überall ein Lockern des Maßes, überall eine BersuchtheiL, mit dem
Ilnmaß, mit dem bisher LlbgewetteLen zu expettmentieren — und dies am
klarsien in jener Allgemeinerscheinung der Gegenwatt, die ich in anderem Zu-
sammeuhang den Zerfall des bisherigen „B ewußLseLns" genannt
habe.

Wie kommt dieser Bewußtseins-Zerfall zusiande?

Haben zwei GegensäHe, hat ein PosiLives und ein (kregatives, ein Ia und ein
Rkein gleichermaßen geisiigen Llnspruch an mich und kann ich diesem Anspruch
mit meinen gewohnten Denkmitteln nicht genügen; gelingt es mir also nicht,
das Ia und das Rkein, die beide eine gleichwettige Forderung an mich haben,
im gleichen Gedanken zu denken — so reißt mich dies entzwei. Bringe ich es
heute z. B. nicht fettig, eine psychologische TaLsache zugleich im Idiom mensch-
licher Wettgebung und in der EnLlarvungssprache der modernen Psychologie
zu denken, so wird dadurch die EinheiL meiner PersönlichkeiL angegriffen. Der
angefühtte Fall isi Lypisch für die heutige Geisieslage. In Lausend Fällen
wiederholt sich für uns die Llnforderung, den Glauben zugleich mit dem Zwei-
fel, das Ia zugleich miL dem I^ein ans Herz zu nehmen, weil eine Menge
neues MaLerial, ein ganzer Sttom „IenseiLs" in uusere saubere euklidische
WittschafL hereingesiürzL isi. Können wir dieses „Zugleich" nichk leisien, so
wird in die EinheiL nnsres BewußLseins Bresche gelegt. Das isi es, wovon
die Kunsi heute so oft spricht. Ilnd es gibt eine Menge Menschen, die des
fanaLischen Glaubens sind, eine „EinheiL des Bewußtseins" werde dem Men-
schen auf alle ZeiL verboten bleiben. Llnd eine große Zahl anderer sirebt voll
Llngsi an die Küsie des schöneren Einsi und hält das für das einzige Heil.

2lber die DenkkonLrasie, die vor den heutigen Menschen hintreten, wollen ihn
nicht zerreißen, sondern sie wollen von eiuem weiträumigeren, neuen BewußL-
sein umfaßt und beherrscht werden.

Und ebenso will in konkreteren Bereichen, im Sozialen, im WirtschafLlichen
eine Menge von vorher UnbekannLem, auch von vorher Llusgesiedeltem und
Bersioßenem in den Körper herein. Die geisiige Ilmwälzung, die uns zuge-

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