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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 4 (Januar 1932)
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Michel, Wilhelm: Neuer Blick auf die Kulturkrise
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0260

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len zu ernem neuen Zwang, ZersLörung zum Zweck erwerterten Aufbaus, Herein-
nahme von bisher als negativ geltenden ElemenLen in die positive Funktion,
Experiment mit dem „Unmaß", um das echte kUeumaß sestzustellen, Rück-
griff auf die „Natur", um auf neue Weise wieder zum Menschen zu kommen.
Diese Einsicht ändert nicht das Geringste daran, daß jeder von uns in der
großen Umwandlung an einem andern Ort eingesetzt ist: der eine als Werk-
zeug des Vorstoßes, der andre als bloße Hemnmng, der dritte als Verbin-
dungsglied zwischen Vorffoß und Basis. 2lber die nene Einsicht, von der
hier die Rede iff, gibt jedem den llberblick über den Gesamtsinn der Operationen
und erlaubt ihm, mit größerer Ruhe und Richtigkeit seinen Platz zu wählen.
Dazu im Einzelnen noch einige Ausführungen.

Als „Krisis der Grenze" hat jüngff Hermann Herrigel die Kulturkrise defi-
niert. Das iff eine sehr brauchbare Prägung. Was in der Kulturkrise frag-
würdig geworden iff, das sind in der Tat Grenzen, die bisher sunktioniert
haben. Zunächff Grenzen der Lebensräume, in denen die Menschen
bisher exiffierten und die nun durch Rundfnnk, Film, Verkehrstechnik durch-
brochen sind. Ferner Grenzen der Lebensbedingungen, die durch
das überall ersolgende Austreten überpersönlicher und überlokaler Zusammen-
hänge (Weltmarkt, Lohn- und Preistarife, Gewerkschaften, Truffs, Erwerbs-
losensürsorge) ins klnanschauliche, saff Gespenffische geraten sind. Dann die
Grenzen des W eltbildes, die durch neue Ergebnisse physikalischer und
chemischer Forschung, ja der Rkaturwissenschast überhaupt eine Veränderung
erfahren haben, so daß sich die Menschenwelt immer deutlicher als ein Aus-
schnitt aus dem Ganzen, als ein Mesokosmos zwischen Makro- und Mikro-
kosmos, darffellt. Endlich sind, was die Diskussion am fühlbarffen beeinflnßt,
die Begrisssgrenzen der Werte (wahr, gut, schön) aus eine srüher
unvorffellbare Art ins Fließen geraten, weil diese Werte sich faff völlig der
Fremdherrschast des biologischen Zentralwertes haben unterwersen müssen. Der
Hexensprnch ,R3rr is koul, sncl konl is kair" iff heute keine Rkacht- und
Schattenwahrheit mehr, sondern sie ffeht im Tag und im Licht; und sie dars
das, weil auch ihre Sprecherinnen, die Hexen, heute keine Hexen mehr sind,
sondern alte Erd- und Rkaturgewalten, nicht schlechter als die antiken Götter,
die das MLttelalter ebenfalls zu Teuseln gemacht hatte. Die Dämonen sind
gesellschaftlich avanciert. Sie werden ganz neu „verffanden" als Elemente,
die srüher einmal „göttlich", d. h. öffentlich, offiziell und gouvernemental wa-
ren und es — wer weiß? — in Zukunft vielleicht wieder einmal werden können.
Mit ihnen hat manches bisher als „negativ" Gewertete ein neues Bürgerrecht
im geiffigen Bereich gewonnen, so daß man einHochkommen der 2lußen-
seiter, ein Gesellschastssähig-Werden des Rkegativen geradezu als das quasi-
soziologische Hauptmotiv der Kulturkrise ansprechen kann.

Das Wort „Llußenseiter" iff ein Grenzenbegriff. Es bezeichnet einen, der jen-
seits der zünftigen Grenze ffeht. Geraten die Grenzen in Berfall, so treten
die Llußenseiter in den Salon.

So kann nicht nur in der Kunff der Douanier Rousseau vordringen, gesolgt
von all den Monteuren, Haushälterinnen, Banern, die Wilhelm Ilhde noch
jüngff zu lancieren versuchte, sondern es avanciert anch in der Tiefenpsychologie
die „Unterwelt" des Unbewußten, und die ganz konkrete Ilnterwelt der sozialen

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