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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 5 (Februarheft 1932)
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André, Hans: Stilgesetze pflanzlicher Formgestaltung im Lichte Goethescher Naturanschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0348
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wird nach Weizsäcker verständlich, daß eine so große MannigfaltigkeiL von
B ew e g u n g s bildern zusiandekommen kann. In der Ersorschung der Ne-
gnlationen, die man srüher durch eine Hierarchie von Befehlssiellen und in
engem Zusammenhang mit der Zentrenlehre sich versiändlich zu machen suchte,
spielt heute das Formproblem eine entscheidende Rolle. Es gilt, wie
Weizsäcker sagt, die Umwandlung einer Formensprache in die andere, gleich-
sam die SprachüberseHung im Organismus zu snchen. Daß mit dieser grund-
legenden Wandlnng physiologischer Anschauungen anch eine nene Onto-
logie sich herauskristallisieren wird, die das „B e r e i t s ch a s L s m o m e n L"
im Sein, eine Art „schöpserischer Jndisferenz", die aristotelische ,,8t6r68i8",
und damit einen stark optimisiisch zu wertenden Grundzug in demselben in
ihrer Weise wieder ganz neu entdecken wird, sei nur nebenbei erwähnt. Von
da aus wird dann auch Goethes Polaritätslehre, nach der wir die
Absichten der Gottheit dadurch zu erfüllen suchen, „daß wir, indem wir von
einer Seite uns zu verselbsten genötigt sind, von der anderen in regelmäßigen
Pulsen nns zu entselbstigen nicht versäumen" — erst in der Tiese be-
griffen*.

Der hohe, stark vom Gemüt genährte Rraturverstand der Deutschen hat die
bildbedingte Deutung der Rkatur, die von Goethe über Carus, K. Chr.
Planck, LoHe bis herauf zu H. Friedmanns Werk „Die Welt der Formen"
sührt, stets in besonderer Weise gepflegt. Dazu kommt die in der Hegel-
schen Dialektik ganz besonders vorgebildete Auffassung der Jdee, die nicht
als hülsenhaste Abstraktion, als toter Nahmen, sondern in ihrem zeugerischen
Sinngehalt (1ogo8 8p6rm3iroo8) ersaßt wird und damit den Problemen der
idealen Morphologie (Lehre von den möglichen Natursormen) den breitesten
Spielraum gewährt. Diese tiesen Tendenzen drängen aber, nm sich nicht in
einem die Wirklichkeit übersliegenden Platonismus zu verlieren, zu einer Höher-
staffelnng in der nrsprünglichen Scholastik, wie sie der Meister des Mittel-
alters, der Schüler des Albertns Magnus und Großneffe Friedrich Barba-
rossas, Thomas von Aquin, als noch ganz unausgeschöpstes Geisteserbe uns
hinterlassen hat. Zn Goethe sind beide Tendenzen schon miteinander verknotet,
aber dieser Knoten mnß neu gelöst nnd neu geschlungen werden. Dazu ist
dentsche Geistesarbeit in besonderer Weise berusen, da sie zur Synthese
der GegensäHe, znr Schau der in sich selbst unterschiedenen
Einheit, ganz besonders prädestiniert erscheint. Goethe ist nns Symbol des
Hineinwachsens in diese neue Einheit anch insosern, als er selbst über sich
hinausweist und hineingestellt sein will in den g1obu8 iutolloetusli^ des ge-
samten abendländischen Denkens. Es handelt sich in dessen hentiger Wendung
um eine Aushebung des reinen Zdealismns, der die ganze
Wirklichkeit in einen logischen Prozeß aufzulösen versuchte und die Nkatur
entsubstanzialisierte. Dabei löste sich die sinnliche Onalisikation der
Dinge (eben weil sie nicht mehr an die Substanz der Dinge angeschlossen
wurde) in die bloßen Raumschemata der mathematisierenden Physik aus, und

* Jn Goethe selbsi waren freilich noch allzu viele „Fortistkationslinien" seiner geisligen Form
aufgerichtet, alö daß er daö Phänomen der schöf>serischen als ^m lebendigen

Wachstum sich abgerbendes Samenkorn, wesenhaft religiös im Sinne des EoangeliumS
gefaßt hätte.

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