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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 5 (Februarheft 1932)
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André, Hans: Stilgesetze pflanzlicher Formgestaltung im Lichte Goethescher Naturanschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0347

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wicklungsbahn im Zusammenwirken zweier nur locker eiuander zugeordueken
Wachstumsprozesse (nämlich des WachsLums des gemeinsamen BlüLenpolslers
und der EinzelblüLen), deren „NichLseld" die Paraboloidschale ist. Es liegL hier
ein „Finden" von RaumverhälLnissen vor, von „Zielen", welche in der Ten-
denz des pflanzlichen Wachstums enthalten und doch nicht ursprünglich als
RealiLäL enthalten sind. Solche vitalen Findungsprozesse hat zuerst
Palägyi in den sogenannten „virtuellen Bewegungen" aufgezeigt, die das
eigenkümliche „Herausversetztsein" aus der eigenen und „Hineinversetztsein"
in die sremde SiLuation allererst konstituieren. Bedecke ich z. B. mit der
Handfläche die kreisförmige Kffnung eines Bechers, so nehme ich die Kreis-
form der Kffnung nichL vermiLtelst der Empfindung wahr, die der Glas-
rand erweckt, sondern diese Empfindungen müssen erft meine Einbildungs-
kraft anregen und mich zu einer eingebildeten Bewegung rnnd um den Glas-
rand herum veranlassen, damit ich dessen Kreisform zu erfassen verinag.
EingebildeLe hinweisende Bewegungen sind es auch, die zuerst unter
der KonLrolle des BewußLseins, dann aber ohne dieselbe beim Erlernen eines
Klavierstücks schließlich eine rein nur in der Ausführuug (nichk mehr jn der
Handlung) selbständige wirkliche Bewegung innerlich konstikuieren helfen.
Ekwas Llnaloges muß es sein, durch das auch die Pflanze eine stekige Unruhe
auf ihr Ziel hin in sich selber gewinnt. Palägyi hat gleichsam die aristotelische
EnLelechie (das, wodurch der Organismus sein Ziel in sich LrägL und doch
uoch nichk wirklich erreicht zu haben braucht) ganz neu eutdeckt. Er hak auch
die Lebensbewegung als ffets neuschöpferisch zu sich zurückkeh-
rende Kreisbewegung mik großer Präguanz gekennzeichnet. Führt
man etwa in der Einbildung eine ZiLronenschniLLe in den Mund, was gewöhn-
lich dann geschieht, wenn irgeud jemand das vor unsern Augen LuL, dann kann
diese eingebildete Bewegung eine so lebhafte Geschmacksempfindung von Zi-
Lronensäure hervorrufen, daß die induzierte Emgfindung an JnkensiLäL bei-
nahe der wirklichen gleichzukommen scheint. Rkatürlich können sich an eine
eingebildete Bewegung außer Geschmacksempfindungen auch KälLeempfin-
dungen (z. B. bei hinweisender Bewegung auf eine Türklinke), Muskelemp-
findungen usw. anschließen und um sie herum einen ganzen Hos von Erinne-
rungen entffehen lassen. Die Brücke von diesen neuen kernhaften EinsichLen
zur biologischen Formgestaltungslehre habe ich in meinem Buch: „Urbild und
Ursache in der Biologie"*, zu schlagen versucht. Es ergibt sich dabei auch eine
grundlegende Wandlung in unserer Borffellung von der lebendigen Ursäch-
lichkeit. Das alte Bild der KausalitäL, welches eine Wechselwirkung zwischen
gegeneinander abgeschlossenen, in ihrem Fürsichsein stets b e -
harrenden Teilen oder Tätigkeitszentren annimmt, ist nach den konkret-
kausalen Vorstellungen der heutigen Biologie nicht mehr haltbar. Dasselbe
MaLerial kann im Gehirn ebenso Träger der verschiedensten Erregungsbilder
werden, wie dasselbe ZellmaLerial in der Keimentwicklung Träger ganz ver-
schiedener Form werden kann. Nnr wenn im Gehirn ein und dasselbe Ma-
Lerial von ganz verschiedenen E r r e g u n g s bildern ergriffen werden kann,

' Derlag R. Oldenbourg, München. OaS Buch ist zugleich als Gabe zum Goethe-J ahr
gedacht und möchte gch an alle wenden, die oon der heutigen Raturforschung aus ein Der-
siändnis sür Gvethes Raturanschauung gewinnen wollen.

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