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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
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Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0518
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verwohnten Mietskafernen, mit kahlen Höfen dazwischen, keineswegs freund-
licher, hygienifcher oder geräumiger als irgendwelche MieLskasernen in DeuLfch-
lcmd. Äöer was in DeuLfchland als düsierer Ausdruck des ProleLarierfchicksals
empfunden würde: hier war es — nach den überfchwänglichen Eintragungen
der deuLfchen Besucher in die Besuchsbücher, die man ofL vorgelegL bekommL —
ein hoffnungsvoller Anfang, eine zukunfts-fchwangere Leiflung, eine Brücke Ln
ein goldenes ZeiLalLer. War es nur die gefchickte russifche Führung? Qder der
doktrinäre Haß gegen die kagiLalifü'fche HeimaL? Vor allem sahen sie wohl
mit russifchen Augen, angesieckt von dem russifchen EnLhusiasmus, von dem
russifchen Llnfangsgefühl, diesem propagandiftifchen TalenL, das aus der be-
kannten russifchen FähigkeiL, zu Lräumen, fländig neue Nckhrung saugt.

Dem deutfchen Kommunifien, der in Rußland arbeitet, vergeht allerdings
diese optifche Täufchung (die durchaus nicht etlva Potemkinfcher Dörfer be-
darf, um zu entflehn) recht bald.

Es ift bezeichnend, daß die SowseLpropaganda so viel von der Mafchine,
von der Induflrie, und so wenig vom Boden und vom Land spricht. SoweiL
das gefchieht, fleht wieder nur die Mafchine, der Traktor, die landwirtfchaft-
liche Induflrie im MittelpunkL. Und hier versagt in der TaL die bolfchewi-
flifche PhanLasie, hier erweifl sie die Befchränkungen, die in ihrem Ursprung
liegen, in ihrer rein flädtifch-induflriellen HerkunfL. Ilnd so sehr diese Phan-
Lasie von den weiten ungenützten Näumen des russifchen Bodens angeregt
wird: am Ende weiß sie nichts mit ihnen anzufangen, als sie mil Induflrie-
giganteu und gigantifchen GeLreidefabriken zu füllen. Hier sind die Grenzen
des kolonisatorifchen AnLriebs, der vorläufig nichts anderes vermag, als in
seinen großartigen Plänen eine EnLwicklung nachzufchaffen, die Amerika (und
Europa) vorgelebt hat.

Ia noch mehr: zunächfl muß diese flädlifche PhanLasie das Land und seine
alte Struktur zerflören. Zwar ifl im altrussifchen Mir (840/0 des Banern-
landes waren in Gemeindebesitz) eine natürliche, bodenfländige Grundlage für
das landwirLfchaftliche Kollektiv geboten, das mit so viel Energie und Rück-
sichtslosigkeit, mit größerem Eifer, als Stalin bekanntlich lieb war, durch-
gesetzt wird. Lluch hier begegnen sich also russifche TradiLionen mit der kom-
muniflifchen Dokttin, und ohne diese Begegnung wäre wohl die Doktrin
fchon längfl gefcheitert. Aber es fcheint doch, als ob sie auf diesem GebieL
weniger gefchmeidig, weniger elaflifch, weniger anpassungsfähig sich auswi'rken
wollte als auf allen anderen. Von Anfang an hat der Bolfchewismus in der
Behandlung des Bauern am wenigflen glücklich und erfolgreich experimentiert.
Immer wieder mußte man einsehn, daß man sich zu weit vorgewagt, daß man
dem Bauern zuviel zugemutet habe. Immer wieder mußte man zurückwei-
chen, um die Ernährung des Landes nicht zu gefährden. Iknd immer wieder
fließ man vor, ohne zum Ziele zu gelangen. MlL welcher HefLigkeit der allzu-
rafchen Kollektivierung Stalin Einhalt gebot, ifl bekannt. Man hatte auch
in Gebieten und auf Böden kollektiviert, auf deneu das, rein wirtfchaftlich
gesehn, Wahnsinn war. Und wenu man gesehn hat, wie im Kaukasus etwa
Weibe- und Bergbcmernwirtfchaft primitivfler Form durch fchematifche
Großbetriebspielerei einfach zugrunde gerichtet wird, ohne daß elwas I^eues
 
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