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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0517

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führen. Melfach kommen sie sogar ohne Verer'nbarung und aufs Geratewohl;
die Folgen kann man sich ausmaleu. Lassen sich Reichsdeutsche nicht gewin-
nen, so gibts ^)ßerreicher und „Tschechoslowaken" genug. Dabei wird die
Zahl der Spezialisten, die in den nächsten ein bis zwei Zahren vom Fünf-
jahresplan benötigt werden, von den beslen Sachkennern auf 100 ooo geschätzt.
Hier erhebt sich eine sehr ernste Frage der deutschen Neichs- und Volks-
politik.

2lm wenigsten ersprießlich gestaltet sich im allgemeinen das Los jener deut-
schen Sowjetgänger, die aus kommunistischer Gesinuungsverwandtschaft nach
Rußland gehn. Von ihnen erwartet der russische Genosse mit Recht, daß
sie als Kommnnisten dem System dienen genau wie er und ohne Sondervor-
Leile, die man dem anders eingestellten Europäer gewähreu muß. Die deut-
schen Genossen anderseits stelleu ihre besondereu Ansprüche und kommen mit
jenen salschen VorausseHungeu, die aus der politischen Propaganda stammeu.
So ergibt sich auf beiden Seiten Enttäuschung. Wohlbekannt und charakte-
stisch sind die Gesialten, die uach stark abgekürztem Aufenthalt schimpsend wie-
der die Grenze überschreiten, aber vielfach mit rotem Abzeichen trohdem zu
Hause paradieren und alsbald wieder vergessen, warum sie so schnell zurück-
gekehrt sind. Von einfachen, deutschen, soliden Arbeitern, die sich in sowjet-
russischen Betrieben wohl fühlen und erfolgreich arbeiten, habe ich immer
wieder gehört: am wenigsten Freude machen uns die kommunistischen Lands-
leute, die Ehrenyforten und Extrawürste erwarten.

Das Verhältnis des deutschen Kommunisten zur russischen Wirklichkeit ist
überhaupt höchst schief; teils romantisch, meist aber einfach agitatorisch ver-
logen. Man begnügt sich uicht, das Positive, eben jenen kolonisatorisch-kollek-
tiven Llustrieb, hervorzuheben, sondern man nimmt den Llnfang für die Voll-
endung, das Versprechen für die Erfüllung, den Willen für die Tat. Was
in der breiten, lässig „beiläufigen" russischen 2lrt durchaus natürlich ist, wird
in der deutschen Luft sogleich systematisch starr. Die russische Propaganda
wechselt sofort den Ton, wenn sie auf den deutschen Resonanzboden übertragen
wird. Das gilt für die Gottlosenbewegung so gut wie für den Llbtreibungs-
paragraphen, für die statistischen Räusche so gut wie für die ganze Phanta-
stik eines „Sowjetparadieses", das eigens für das Llusland zurechtgemacht
wird und das man in Nußland keineswegs ernst nimmt. Denn es muß
immer wieder gesagt werden: dieses Regime macht gar nicht den Versuch,
das möglichst große Glück möglichst vieler vorzuspielen oder zu schaffen, das
dem deutschen Kleinbürger der liberal-sozialißischen Färbung vorschwebt.
Sowjetrußland legt auch gar keinen Wert darauf, von seinen Ilntertanen
als ein Paradies angesehn zu werden oder zu wirken, wohl aber als eine
Llutorität und vor allem: als eine Macht. 2lls Staat. Das begreift der
deutsche Kommunist, der ja immer nur den Staat zu bekämpfen und nicht
einen eigenen Staat zu gestalten hat, nicht im mindesten. Sein Bild vom
Sowjetrußland hat nichts mit Staat und Macht zu tun, sondern bleibt
immer Traum oder agitatorische Waffe einer Minderheitsgruppe.

Einmal wurde ich nach einer kommunistischen deutschen Delegation durch eine
Llrbeitersiedlung geführt. Es waren eigentlich nur jene so erstaunlich schnell

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