Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI Artikel:
Vom Heute fürs Morgen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0305
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Iugend zu Stubenhockern, sondern
der Unterricht.

Wirklich Fähigkeitsklaffen?

Eine Stimme von der andern Seite
ie verhältnismäßig weitgehende
Fürsorge für Schwachbegabte
hat das soziale Gewissen zu einer
neuen Sorge geführt. Die Befähig-
ten leiden Not durch die Hem«
mungen, welche durch den gemein-
samen Unterricht von Schwachen
und Äbersliegern entstehen! Die
Mittelmäßigkeit siegt, die Talente
müssen verkümmern! Ist dem wirk-
lich so? Wo aber fängt das Talent
an und wo hört die Mittelmäßig-
keit auf? Nach welchem Maßstabe
sollen die Fähigkeiten geschätzt wer-
den? So viel Fragen, so viel Schwie-
rigkeiten! Die Begabung der Kinder
ist ganz verschieden. Iemand ist
noch nicht „unbegabt", der in der
Mathematik nichts leistet. Er kann
in den geschichtlichen oder sprach-
lichen Fächern tüchtig sein. Viele
junge Menschen werden bekanntlich
für dumm gehalten, die später ihre
scheinbar begabteren Genossen weit
hinter sich lassen. Sie sind viel-
leicht besonders praktisch veranlagt,
verstehen das Leben zu meistern.
Ist das keine „Begabung"? Bei
nicht wenigen Kindern gleicht die
sogenannte Begabung einem Ker-
zenlichte, das eine Zeitlang brennt
und dann erlischt, weil es keine
Nahrung mehr hat. Wollte man
für irgendeine Begabung einen
Maßstab aufstellen und die Schüler
danach einteilen, schon nach wenigen
Wochen müßte man neu ordnen.
Erfahrungen in Wismar und an-
derswo haben das bestätigt und
schnell dazu geführt, das „Mann-
heimer System" wieder über den
Haufen zu werfen. Dazu kommt,
daß in der Absonderung der außer-
gewöhnlich Begabten (denn um die
könnte es sich doch nur handeln)
die Gefahr liegt, daß ein gewisser

geistiger Hochmut großgezogen wird.
Auf der andern Seite müssen sich
die Schüler der Förderklassen, die
weniger Begabten, ja leicht gedrückt
fühlen, wenn man sie so auf Schritt
und Tritt darauf hinweist, daß ihre
Kameraden doch bessere Menschen
seien. Bei den ganz schwach Be-
gabten, den Schülern der „Hilfs-
klassen^, ist das freilich nicht so
schlimm, sie empfinden ihre Minder-
wertigkeit weniger. Endlich ist zu
fürchten, daß es den herausgehobe-
nen „Begabten" gehen wird wie
den Treibhauspflanzen, deren künst-
liche Züchtung ihre Widerstands-
fähigkeit vernichtet hat. Statt den
meistens empfindlichen Nerven Ruhe
und Ausspannung zu gönnen,
peitscht man sie übermäßig auf.
Es ist vielleicht gerade ein großes
Glück bei unserer Lern- und Ge-
dächtnisschule, daß durch die zahl-
reichen Wiederholungen den Schü-
lern mit rascher Auffassungsgabe
und gutem Gedächtnis so häusig die
Gelegenheit zum „Schlafen" gegeben
wird. Sie erholen sich dabei kör-
perlich und geistig.

Man sondere also die „Begabten"
nicht aus, sondern schafse Bedingun-
gen, daß sie ihre überragende gei-
stige Kraft innerhalb der
Schulgemeins ch aft, in die die
Verhältnisse sie gestellt haben, aus-
nützen und vermehren können:
durch Herabsetzung der Schülerzahl,
durch vorzügliche Lehrmittel, durch
tüchtige und berufssreudige Lehrer,
durch Fürsorge für ihr körperliches
Gedeihen in Schule und Eltern-
haus und vor allen Dingen: durch
einen naturgemäßen Unterricht.
Unsre heutige Schule muß zur
„Arbeitsschule" werden, wo der ein-
zelne Schüler aus sich herausgehen,
seinen Neigungen und Befähigun-
gen entsprechend sich selbsttätig am
Nnterrichte beteiligen, überhaupt sich
frei bewegen, seine Ellenbogen ge-
brauchen kann. H. Vordemfelde

2^8
 
Annotationen